Montag, 18. März 2024

Liebe Lehrer, ich habe ein Konzentrationslager überlebt... Mein Anliegen ist:

 

 

Ich ordne alte Akten und finde einen handgeschriebenen Brief, der uns vor langer Zeit zuging:


Liebe Lehrer, 

ich habe ein Konzentrationslager überlebt.

Meine Augen haben Dinge gesehen,

die kein menschliches Auge je erblicken sollte:

Gaskammern, gebaut von gebildeten Ingenieuren,

Kinder, vergiftet von wissenschaftlich ausgebildeten Ärzten,

Säuglinge, getötet von erfahrenen Krankenschwestern,

Frauen und Kinder, erschossen und verbrannt 

von ehemaligen Oberschülern und Akademikern.

Deswegen traue ich der Bildung nicht mehr.

Mein Anliegen ist:

Helfen Sie Ihren Schülern, menschlicher zu werden.

Ihr Unterricht und Ihr Einsatz sollte 

keine gelehrten Ungeheuer hervorbringen,

keine befähigten Psychopathen,

keine gebildeten Eichmanns.

Lesen, Schreiben und Arithmetik sind nur wichtig,

wenn sie dazu beitragen,

unsere Kinder

menschlicher

zu machen.


Haim G. Ginott

 




 

Montag, 11. März 2024

Ich verliere nicht gern Freunde

 


Ich erfahre von einem Freund, dass neulich jemand schlecht von mir geredet hat. Zu einer anderen Person, die das dann alles geglaubt hat und nun mit einem Bild von mir rumläuft, das ungut ist. Und mit mir nichts mehr zu tun haben will.

Soll ich bei der betreffenden Person intervenieren, zurechtrücken? Damit ich wieder gut dastehe? Und soll ich den Schlechtredner zur Rede stellen? Soll ich mich überhaupt in so etwas reinhängen?

Ich bin jemand, der sich da eher raushält. Mit Schmutz beschäftigen bringt nur schmutzige Hände. Wenn der Schlechtredner nicht erst mal mit mir redet über das, was er an mir schlecht findet, sondern gleich zu anderen geht und seine Sicht über mich kundtut - da komme ich doch gar nicht mehr an ihn ran. Klar, ich könnte auch energisch, empört oder freundlich auf ihn einreden, dass ich doch gar nicht so bin, wie er meint. Aber er hat mich ja schon hinter sich gelassen. Er hat sein Bild von mir, leider ein schlechtes. Stehe ich ihm zu.

Was also tun? Na ja, ich bin mein eigener Chef, ich kann auf alle mögliche Weise reagieren. Mein Motto ist eben: Null Reaktion, es auslaufen lassen. Den Schlechtredner nicht reizen, anheizen. Ich bin ihm dabei nicht mal böse, es ist ja sein Ding mit mir, das muss er so haben. Nur ich habe keine Lust, mich mit dieser seiner Schlechtsicht auf mich zu befassen. Ich finde mich nämlich sehr in Ordnung. Muss er ja nicht mitmachen.

Die Alternative ist: offensiv reinhängen. "Was hab ich da gehört? So redest Du über mich? Wie kommst Du denn darauf?" Mal sehen, was kommt. "Entschuldige, das habe ich nicht gewusst, Ja, wenn das so ist." Na prima. Das Geschmäckle aber bleibt, ich kann dem doch nicht die Seele richten.

"Tut mir echt leid, dass ich so von Dir gedacht habe." Ehrliches Innehalten, die Basis wiederfinden, Vertrauen, "Ok, Schwamm drüber!" Nanana, denk ich, das gibts doch nur im Märchen. Der Schlechtredner hat mich aufgegeben, mich nicht erst mal gefragt, sondern ist mit festem schlechten Bild von mir losgezogen.

Ich bin not amused, wenn schlecht über mich geredet wird. Aber was solls, kommt eben vor. Blöd sind nur die Auswirkungen auf andere. Na ja, das warte ich dann mal ab. Die betroffene Person hat sich von mir zurückgezogen. Aber demnächst mache ich doch noch einen Versuch, wieder gut gesehen zu werden. Weil mir diese Person wichtig ist. Ich verliere nicht gern Freunde.

 

Montag, 4. März 2024

Wutausbruch: Wer ist zuständig?

 



Das Erkennen der Selbstverantwortung bedeutet das Ende der Verstrickungen, die dadurch entstehen, dass jeweils der andere verantwortlich dafür gemacht wird, wie es einem geht.

Wenn ich gewohnt bin und nicht anders denken kann, als dass andere für mich verantwortlich sind, dann gilt in den Beziehungen das »Du bist schuld« und »Wegen Dir geht es mir schlecht«. Aber ich kann mich von dieser Sicht fremder Verantwortung fort und hin zur meiner eigenen Zuständigkeit orientieren.

Im Bereich der psychischen Wirklichkeit, der Bewertung und Gewichtung der Außenwelt, zu der auch das Verhalten des anderen gehört, erlebe ich dann meine ungeschmälerte Selbstverantwortung: »Was andere mit mir tun, unterliegt der Bewertung von mir«. Für die Innenseite der Beziehung gilt das Andere-sind-für-mich-verantwortlich-Muster nicht mehr.

Es gilt dann: »Auf Dein Verhalten kann ich mit Freude oder Schmerz reagieren – dies ist meine Zuständigkeit. Für meine Reaktionen auf Dein Tun bist nicht Du, sondern bin ich selbst verantwortlich.«

Und ebenso: »Auf mein Verhalten kannst Du mit Freude oder Schmerz reagieren – dies ist Deine Zuständigkeit. Für Deine Reaktionen auf mein Tun bin nicht ich, sondern bist Du selbst verantwortlich.« 

Auf einen Wutausbruch etwa kann der andere ebenfalls mit Wut oder auch gelassen reagieren, für beide Reaktionsmöglichkeiten wird er seine Gründe haben. Es gilt aber nicht mehr, den anderen für die eigene Reaktion verantwortlich zu machen.Und ebenso gilt nicht mehr, mich für die Reaktion des anderen zuständig zu machen.

 

Montag, 26. Februar 2024

Deutscharbeit 10:03 Uhr



deutscharbeit in der klasse 8c. angespannte ruhe liegt über den jungen leuten. ein stuhl wird gerückt. der lehrer blickt auf. ein schüler ist aufgestanden. "was ist los, kilian?" alle sehen jetzt auf. der schüler sieht zufrieden aus. er schaut zur tafel, durch sie hindurch. "kilian, was ist?" leicht irritiert steht der lehrer auf. "ich schreibe nicht weiter. ich schreibe keine aufsätze mehr." nach einer sekunde absoluter stille wird es sehr unruhig. der lehrer wird energisch. "lass den quatsch und setz dich. schreib weiter."

kilian richtet sich ganz auf. er sieht den lehrer an. "sie haben kein recht dazu. meine gedanken gehören mir. niemand hat das recht, meine gedanken auf sein papier zu befehlen. ich werde keine aufsätze mehr schreiben. nie mehr." seine entschlossenheit bewirkt noch einmal absolute stille im klassenraum. dem lehrer gelingt keine antwort. zwei, drei andere junge leute stehen ebenfalls auf. sie sagen nichts, sie schließen ihre hefte. der lehrer ist fassungslos, sprachlos. alle stehen jetzt, alle hefte sind geschlossen. "wollen sie einen kaffee?" fragt freya, "ich hole einen".

tagesschau: "überall im land haben sich heute vormittag zahlreiche schüler geweigert, ihre klassenarbeiten zu schreiben. lehrer berichten, dass die schüler mitten im unterricht aufstanden und die fortsetzung ihrer arbeiten ablehnten. lehrer, pädagogen, psychologen und eltern können sich diesen vorgang nicht erklären, zumal es an sehr vielen orten gleichzeitig gegen 10:00 uhr vormittags geschah. die entschiedenheit der ablehnung, klassenarbeiten zu schreiben, kam umso unvermuteter, als es keine vorherigen anzeichen für ein solches phänomen gab."

 

Montag, 19. Februar 2024

Vorfrühlingstag

 



an diesem vorfrühlingstag

sind die kinder im wald.

als teil der natur,

versunken in ihr spiel,

handfest glücklich.




am waldrand fällt ihr blick

einen moment nach draußen:

hinter der großen eiche,

dem letzten schutz,

über dem fluss,

dem bürgen des lebens,

harrt der kasten aus stein,

das monument ihrer

menschwerdung,

die schule.




absurd,

wirklich und unwirklich

zugleich

steht sie da drüben,

wie ein alien.




„wozu ist das gut?“

„wozu könnte es gut sein?“

sie flüstern.




dann folgen die kinder

wieder ihrem spiel,

das leben heißt,

in dieser vertrauten umgebung,

der großen harmonie,

die sie liebt und lehrt,

wer sie wirklich sind. 

 

 

 

*

Prolog meines Buches "Schule mit menschlichem Antlitz", 2001


 



Montag, 12. Februar 2024

Herzinfarkt und Sternennächte

 


Eine gute Freundin ruft an, sie kann nächste Woche nicht zum Geburtstagsbesuch kommen. Na gut, denke ich, o.k., ringe mich aber durch, nachzufragen: "Warum?" "Na, weil ich im Krankenhaus bin." Spärliche Mitteilung. "Was gibt es denn?" "Herzinfarkt, gestern, aber jetzt ist alles gut."

Ich bin sprachlos und sehr berührt. Das sagt sie so nebenbei, und wenn ich nicht nachgefragt hätte... Wir reden dann eine ganze Weile darüber – aber erst am nächsten Tag, als ich mich berappelt habe und denke, dass ihr mein Nachfragen und mein Mitfühlen gut tun könnte. So war es dann auch. Ich wollte schon die drei Stunden hinfahren und Wiesenblumen mitbringen. Aber ich kenne sie ja und weiß, dass ihr soviel Aufhebens nicht gefällt. Das Gespräch kam aber gut.

"Das kann ruck-zuck vorbei sein. Das war es dann." Sie sieht das nüchtern. Und ich? Na ja, recht hat sie ja. So kann es schon sein. Ich blicke auf und in den Sommer, mein Joggen, die Wiesengänge, meine immer wieder neuen schönen Alltäglichkeiten. Meine Lieben. Mein Lebensprojekt Amication. Und meine Sternennächte.

Dahin wird die Reise gehen, ins Unendliche, zu den Sternen eben. Wenn es soweit ist. Ist es aber noch nicht! Kann aber passieren, jederzeit. Ja klar. Soll dann so sein. Jetzt aber eben nicht. Jetzt höre ich beim Schreiben die Amsel singen. Und sehe das nachlassende Sonnenlicht in der Abendzeit. Und weiß, dass der Vollmond gleich über den Wiesen stehen wird. Ich bin hier, in dieser bunten Welt, mit ihren Geheimnissen. Es ist halt so viel los und alles ist so voll. Es soll nicht zu Ende sein.

Das Ende all dieser Dinge kann dann kommen, wenn es denn zu kommen hat. Das sehe ich auch nüchtern. Aber schade ist es dann doch ...


Montag, 5. Februar 2024

Verantwortung und Durchsetzen

 


Ich kümmere mich um meine Kinder, das ist so selbstverständlich wie was. Aber nicht deswegen, weil ich für sie verantwortlich bin. Was bedeutet das? Und warum kümmere ich mich dann? Und was passiert in der inneren Welt, wenn ich mich in der äußeren durchsetze?

*

Amication bedeutet in der Kommunikation mit den Kindern einen radikalen Bruch mit der Tradition. Die Botschaften der Kinder werden anders verstanden. Die Kinder sagen den Erwachsenen in ihren Herzen:

»Liebe mich, aber nimm mir nicht meine Verantwortung für mich selbst. Denn ich bin ein selbstverantwortliches Wesen von Anfang an. Hilf mir, unterstütze mich, sage ehrlich, wenn Dir etwas zu viel wird. Und auch wenn Du Dich durchsetzt: Maße Dir nicht an, besser zu wissen als ich, was für mich wirklich gut ist. Deine subjektive Wahrheit ist mir willkommen oder nicht willkommen und stets meiner subjektiven Wahrheit gleichwertig. Niemals aber kann Deine Wahrheit über meiner stehen.«

Es geht dabei nicht um das Handeln, sondern um das Spüren der Wahrheit.

Die amicative Antwort ist: »Ich liebe Dich, und ich bin nicht für Dich verantwortlich – denn dies bist Du selbst von Anfang an, zu 100 Prozent. Ich handele so, wie es mir und meiner Wahrheit entspricht, ohne dabei meine Wahrheit über Deine zu stellen – auch wenn ich mich durchsetze und Du dann tun musst, was ich für richtig halte.“

Liebe ja – Verantwortung nein. Durchsetzen ohne Herabsetzen.


Montag, 29. Januar 2024

Lass mir mein Bild

 


Vorgestern habe ich Amication in einer kleinen Eltern- und Studentengruppe im privaten Kreis vorgestellt. Zum Schluss sagte eine Teilnehmerin, Kerstin, sie habe ein Gedicht geschrieben, es passe gut zum dem, was ich grade erzählt hätte. Wir wollten es alle hören, und Kerstin trug es vor. Ich habe sie gefragt, ob ich ihr Gedicht in meinen Blog stellen könne. Kerstin war einverstanden und hat es mir zugeschickt. 

*

 

Lass mir mein Bild

 

Ich will, dass du mich hältst.

Und dass du sagst:
"ich tröst dich, wenn du fällst"
und "ich bin für dich da,
wenn du mich brauchst". 
Aber ich will auch,
dass du mich respektierst.
Und dein Vertrauen nie verlierst
darin, dass ich es schaffe.
Und dass ich, was ich tu,
am Ende richtig mache.
 
Ich will, dass du mich gehen lässt.
Mich ziehen und verstehen lässt,
wie dieses Leben funktioniert.
Das geht, indem man ausprobiert
und läuft - nicht nur geradeaus.
Mach ich nen Fehler
dann mach du
dir nichts daraus.

Und glaub nicht,

dass du wüsstest
was du an meiner Stelle
machen müsstest.
Lass mir den Pinsel in der Hand,
mal nicht das Bild für mich.
Klar, sind die Farben und die Linien
da nicht einheitlich,
aber ich muss es selber malen,
ganz allein.

Sag nichts dazu,

misch dich nicht ein,
ich muss all das bestreiten.
Also: ich bitte dich, versuch's,
sie nicht zu überschreiten:
die Linie des Respektes zwischen uns.
Die sagt "es ist dein Leben,
und ob ich's möchte oder nicht,
muss ich dir Freiraum geben".

Also versuch es zu versteh'n:

lass mich los und lass mich geh'n,
ich kann's allein.
Willst du behilflich sein,
dann tröst' mich, falls ich falle.
Denn letzten Endes tun das alle
ab und zu.
Doch sei dir sicher und bewusst
dass ich das, was ich tu,
zu guter Letzt
und jedes Mal
auf meine Weise löse.

Zieh ich das Bild aus deiner Hand,
sei mir dafür nicht böse.


Kerstin Mühlhäuser







 
























































Montag, 22. Januar 2024

Anne, Karin und die Rutsche

 



Die dreijährige Anne und ihr Vater Martin kommen im Winter zum Spielplatz. Anne will rutschen und klettert die Leiter hoch. Aber es liegt Schneematsch auf der Rutsche, und Martin sagt, dass sie nicht rutschen soll. Weil sie eine nasse Hose bekommt und sich erkälten kann. Anne will trotzdem rutschen. Martin steigt rasch die Leiter hoch und holt Anne nach unten.

Kurz darauf kommen die dreijährige Karin und ihr Vater Klaus zum Spielplatz. Karin will rutschen und klettert die Leiter hoch. Aber es liegt Schneematsch auf der Rutsche, und Klaus sagt, dass sie nicht rutschen soll. Weil sie eine nasse Hose bekommt und sich erkälten kann. Karin will trotzdem rutschen. Klaus steigt rasch die Leiter hoch und holt Karin nach unten.

Beide Väter lieben ihre Kinder. Beide Väter tun dasselbe. Und dennoch gibt es einen großen und hochwirksamen Unterschied. Diesen kann man nicht so ohne weiteres erkennen, er will erfühlt werden. Aber man kann ihn erklären. Ohne dass ein Vorwurf daraus entsteht – aber sehr wohl das Aufzeigen eines anderen Wegs.

Beide Kinder erleben, dass sie nicht tun können, was sie wollen. Was sie als das Beste für sich erkannt haben. Nämlich zu rutschen, auch wenn auf der Rutsche Schneematsch liegt und der Vater das nicht will. Beide Kinder sind Schneematsch-Rutsche-Kinder. Beide Kinder können nicht tun, was sie für richtig halten. Beide erleben den Vater als Verhinderer, als Stein in ihrem Weg.

Annes Vater Martin ist in der amicativen Welt zu Hause. Karins Vater Klaus ist in der traditionellen, der pädagogisch orientierten Welt zu Hause. Im Unterschied zu Martin trägt Klaus die Verantwortung für sein Kind. Für die Beziehung von Klaus und Karin gilt, dass der Vater im Herausfinden und Bewerten des Richtigen dem Kind übergeordnet ist. Es gilt, für Klaus gilt: Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist. 

Klaus liebt seine Tochter, und er ist in Sorge um sie. Die amicative Sicht auf Klaus ist ohne Vorwurf, seine Liebe und Sorge werden gesehen. Dennoch aber wird etwas Ungutes erkannt, etwas, das sich vermeiden lässt, wenn man amicativen Boden betritt. Dies geht so:

Aus amicativer Sicht erlebt Karin die Haltung ihres Vaters Klaus – ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist – als Grenzüberschreitung, schärfer ausgedrückt: als einen psychischen Angriff auf ihre, Karins, Bewertung. Sie erlebt, dass sie nicht ein Schneematsch-Rutsche-Kind sein darf, dass ihr Wille nicht richtig sein, dass ihre Weltdeutung falsch sein soll. Die Anspruchshaltung ihres Vaters erreicht Karin im Tonfall der Stimme, in der Art, wie er die Leiter hochkommt, wie er sie anfasst, wie sein Gesicht aussieht, auf den psychischen Kommunikationskanälen. 

Karin setzt sich innerlich dagegen zur Wehr, dass sie nicht das Kind sein darf, das sie sein will. Sie ist verstrickt in psychischen Übergriff und Abwehr. Sie fühlt, dass ihre Position weniger wert sein soll. Insgesamt: sie fühlt sich demoralisiert. Zur Verhinderung im Außenbereich – sie kann nicht tun, was sie will – kommt die Grenzüberschreitung im Innenbereich, der psychische Angriff durch die pädagogische Anspruchshaltung.

Anne erlebt dies nicht, weil ihr Vater Martin keine pädagogische, sondern eine amicative Haltung hat. Nach amicativer Auffassung gibt es auf der Innenseite der Beziehung kein objektiv besseres Wissen eines Erwachsenen darüber, was gut für ein Kind ist. Annes Vater interveniert aus seinen subjektiven Gründen, die er nicht als objektiv wertvoller einstuft als die Gründe des Kindes. Es gilt, für Martin gilt: Jeder spürt selbst am besten, was für ihn gut ist.

Einerseits sind beide Väter gleich: Beide sind in Sorge, dass ihre Kinder sich erkälten können. Und deswegen greifen sie ein. Doch während Klaus meint, dass er objektiv Recht hat (und nicht ahnt, welche ungute Wirkung das auf Karin ausübt), interveniert Martin ohne den Anspruch, dass dies zum objektiv Besten des Kindes geschieht, besser als es das Kind, seine Tochter Anne, selbst wahrnimmt.  

Dies erspart Arme die Demoralisierung, die Karin erlebt. Anne bekommt mit, dass Martin ihre Bewertung nicht ändern will. Dass er zwar anders bewertet und dies auch mitteilt und sich wünscht, dass sie seiner Bewertung folgt. Dass er ihr aber ihre abweichende Bewertung wirklich lassen kann. Sie erlebt sich auf der psychischen Ebene als gleichwertig. Ihr inneres Königtum wird nicht angetastet. 

Der Vater geht entschlossen gegen sie vor im Außenbereich, er holt sie ohne Wenn und Aber von der Leiter. Und zwar aufgrund seiner eigenen Interessen (Angst und Sorge verringern). Doch im Innenbereich schwingt die Achtung gegenüber ihrer Fähigkeit mit, das eigene Beste selbst spüren zu können. So, wie Anne es sieht. Nur, dass er dies aus seinen Gründen jetzt nicht Wirklichkeit werden lassen kann.

Die äußere, physikalische Aktion ist dieselbe – die innere, psychische Dimension ist grundverschieden. Dadurch ist die erlebte Realität gänzlich anders. Väter und Töchter verlassen den Spielplatz, und was so zum Verwechseln ähnlich aussieht, ist doch so verschieden. Zwei Kinder können nicht tun, was sie wollen. Aber das eine Kind, Karin, wird – trotz väterlicher Liebe und Sorge – zusätzlich belastet mit einer seelischen Grenzüberschreitung, einem psychischem Angriff und Demoralisierung. 

Das andere Kind, Anne, erlebt sich trotz der Verhinderung seines Wunsches als geachtet und anerkannt.

Montag, 15. Januar 2024

Jenseits der Schulpflicht



Die Abschaffung der Schulpflicht bedeutet das Ende des Lernzwangs und das Ende der heutigen Schule. Doch die Gebäude lassen sich weiter nutzen, und das Personal, die Lehrer, können eine wichtige neue Aufgabe übernehmen. Was sollte die Kinder denn davon abhalten, in Gebäude voller Ressourcen zu gehen, wenn sie dies nicht müssen und wenn sie niemand daran hindern darf? Wenn es dort freundliche und achtungsvolle Leute gibt, die für sie da sind, als Personen und fachliche Experten? Deren Angebote interessant, ja faszinierend sind? Lernen ohne Sollen öffnet das Tor, das Schultor, hinter dem die Kinder heute gefangen sind.

Ob sie jemals wieder einen Fuß durch dieses Tor setzen werden, wenn sie es nicht mehr müssen, wird von vielem abhängen. Die Erwachsenen werden sich schon anstrengen müssen, wenn sie etwas von ihrem Wissen von der Welt weitergeben wollen. Aber nur so wird es gehen: Das Angebot einer neuartigen Schule steht in Konkurrenz zu allem anderen, was sich den Kindern anbietet, wenn die Schulpflicht aufgehoben ist.

Die Abschaffung des Zwangslernens vergrößert die Basis der Demokratie: junge Menschen werden als vollwertige Bürger – als Bürger, die über ihr Denken und Lernen selbst bestimmen – in der Gesellschaft willkommen geheißen. Wenn in der Aufhebung der Schulpflicht eine Gefahr für Kinder gesehen wird (Kinderarbeit, Ausbeutung u. a.), dann kann man etwas dagegen tun. Begleitende Gesetze sorgen dafür, dass das Recht der Kinder, über ihr Lernen selbst zu bestimmen, nicht zu ihrem Nachteil wird. „Wer ein Kind gegen seinen Willen... wird bestraft.“ Unzählige solcher Schutzbestimmungen lassen sich ersinnen und in Gesetze fassen. Und bei entsprechendem gesellschaftlichen Willen auch effektiv durchführen. Den Kindern das Recht auf selbstbestimmtes Lernen zu ihrem Schutz zu nehmen – diese Verdrehung ist gänzlich überflüssig.

Die Schulpflicht wird nicht morgen und auch nicht übermorgen aufgehoben. Sie wird erst dann beendet sein, wenn hierüber ein gesellschaftlicher Konsens besteht. In den Parlamenten der Bundesländer muss es dafür jeweils eine Mehrheit geben, und ein solches Gesetz muss vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben. Wann wird das sein? Unzählige Diskussionen werden vorausgehen, auf allen Ebenen, kreuz und quer durch die Gesellschaft. Die anthropologische Grundlage, das Menschenbild vom Kind, wird sich ändern müssen. Der gesamte Umgang mit Kindern wird sich wandeln, bevor die Schulpflicht als Konsequenz aus dieser grundsätzlichen Veränderung von selbst aufgehoben wird.