Sonntag, 13. November 2016

Wie viel Montessori?

Heute poste ich die Fortsetzung des Interviews über meine Position zu
Maria Montessori.


Frage
Maria Montessori schreibt 1950 in ihrem Buch »Kinder sind anders«,
dtv 2001, S. 108 f.: »So kommt es, dass das Bewusstsein des Kindes
von Liebe erfüllt ist, ja dass das Kind erst durch die Liebe zur Selbst-
verwirklichung findet« Und: ››Die kindliche Liebe kommt aus der
Intelligenz, und sie baut auf, indem sie liebevoll sieht und beobachtet
... Im Kinde ist die Liebe noch frei von Wıdersprüchen.« - Herr Dr.
von Schoenebeck, stimmen Sie zu?  `

Antwort 
Ich bitte Sie, wer weiß denn schon wirklich, was Liebe ist? Das gilt
doch erst recht für die Liebe, die Kinder empfinden! Da kann jeder
spekulieren und seiner Intuition freien Lauf lassen. Und das ist auch
gut so. Und wenn Maria Montessori das so sieht... Ich selbst habe
mich so etwas bisher nicht gefragt, es geht mich nichts an, wie in einem
anderen Menschen die Liebe lebt. Mich stört bei dieser Passage das,
was mich generell bei Maria Montessori stört: Dass sie so fulminant
dort herumfuhrwerkt, wo ich in Achtung und vielleicht auch Demut
eine Grenze erkenne, die ich nicht überschreite. Dort nämlich, wo
nach meiner Auffassung das souveräne Land des Kindes beginnt. Was
muss sie in diesem intimen existentiellen Bereich des Kindes die
Verkünderin der Wahrheit spielen? Ich finde so etwas eigentlich
übergriffig.

Frage
Herr Dr. von Schoenebeck, sie haben sich bisher kritisch zu Maria
Montessori und ihrer Pädagogik geäußert. Können Sie sich überhaupt
vorstellen, dass es für Montessori-Pädagogen gewinnbringend sein
könnte, sich mit der amicativen Theorie und Praxis zu beschäftigen?

Antwort
Es gibt seit über 35 Jahren eine amicative Praxis. Ich will sagen: die
amicative Theorie hat längst die dazugehörige und auch real funktio-
nierende Praxis. Jeder, auch ein Montessori-Pädagoge, kann diese
Theorie und Praxis kennenlernen, und ist eingeladen. Amication ist
in der Postmoderne verwurzelt, mithin nicht wertvoller als Pädagogik.
Amication ist ein Angebot, keine Besserwisserei. Meine kritischen
Aussagen lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, aber mein
Tenor ist nicht der einer Brüskierung. Auch wenn ich oft so empfunden
werde. Wenn die amicative Position vorgetragen wird, kann man sie
selbstverständlich abtun. Aber man kann Amication auch als einen   
Impuls nutzen, um die eigene Position zu überdenken und zu
begründen. In Gesprächen mit pädagogisch eingestellten Menschen
sehe ich mich immer wieder auch in harten aber achtungsvollen
Auseinandersetzungen, und ich wüsste eigentlich nicht, warum auf
meine Ausführungen nicht ebenso geantwortet werden könnte. Und
Antworten ist der Beginn einer fruchtbaren Begegnung.

Von dem Gewinn, der in einer achtungsvollen Auseinandersetzung
liegt, einmal abgesehen, enthält der amicative Ansatz aus meiner
Sicht für jemanden, der nach den Prinzipien von Maria Montessori
arbeitet, ein befreiendes Element: Er kann Maria Montessori und
all denen, die in der Montessori-Pädagogik Autorität haben, fragend
entgegentreten. Er kann hinterfragen und alles an der eigenen
subjektiv wahren Ethik messen. Amication sagt jedem Montessori-
Pädagogen, dass er selbst es ist, der darüber entscheidet, wie viel
Montessori er in sein Denken und Handeln einfließen lassen will.
 
Ein Beispiel. Meiner Meinung nach wird jemand, der in einem
Montessori-Kindergarten oder einer Montessori-Schule arbeitet,
ein Authentizitätsproblem bekommen, wenn er diese Forderungen
Maria Montessoris ernst nimmt: »Wir bestehen mit Nachdruck
darauf, dass der Lehrer sich innerlich vorbereiten muss: er muss
mit Beharrlichkeit und Methode sich selber studieren, damit es ihm
gelingt, seine hartnäckigsten Mängel zu beseitigen, eben die, die
seiner Beziehung zum Kinde hinderlich sind.« (Kinder sind anders,
dtv 2001, S.153). Das amicative ››Ich liebe mich so wie ich bin«
ist da von anderer Qualität, und mit den ››Mängeln« des Charakters
wird anders verfahren. Das pädagogische »Mängel beseitigen«
wird als nicht weiterführend erkannt; denn Mängel sind Teile des
Selbst, denen Achtung zukommt und mit denen konstruktiv umzugehen
man lernen kann.

Wie auch immer: Amication bietet jedem, der erzieherisch tätig ist,
auch Montessori-Pädagogen, einen unkomplizierten Weg zu sich
selbst an. Im Mittelpunkt steht der Einzelne, der Handelnde, der
Pädagoge - Sie -, nicht das Kind, nicht die Sache oder sonst was.
Von dieser Ich-Position aus wird dann Ausschau gehalten nach der
Welt und den Kindern, auch nach Maria Montessori und der aktuellen
Montessori-Pädagogik. Und dann habe ich gelegentlich Lust, Maria
zu fragen, was sie für Einfälle und Vorschläge für das Zusammensein
mit Kindern hat.