Samstag, 31. Dezember 2016

Hallo, ich ertrinke!


Aus der Zeit meiner Feldstudie zur Erkundung amicativer Kommunikation mit Kindern. Es ist Anfang Mai ...

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Wir sind am Baggersee. Britta, Elke, Holger, Oliver, Sandra - zwischen 7 und l0 ]ahre alt - und ich. Wir haben ein Feuerchen gemacht und rösten Kartoffeln. Um das Feuer auszumachen, holen wir Wasser aus dem See.

Das Wasser interessiert sie. Erst geht Oliver mit seinen Gummistiefeln am Ufer lang. "Pass auf, dass Dir kein Wasser reinschwappt." Ich habe Angst, er könnte sich erkälten - meine Erwachsenenangst. Dann will auch Elke im Wasser laufen. "Kann ich Deine Gummistiefel haben?" Sie sind im Auto. Ich habe Bedenken: sie lässt Wasser reinlaufen, sie bekommt nasse Füße, die anderen wollen auch. Aber o.k., ich gebe sie ihr. Was ist mir wichtiger: meine Gummistiefel, die ich ja zu Hause wieder trocknen kann, oder Elkes Wunsch?

Elke geht dorthin, wo es für meine Stiefel zu tief ist. Sie setzt sich über mein "Kein Wasser in die Stiefel" hinweg. Ich akzeptiere: Wenn es ihr Spaß macht, sie ist mir wichtiger. Das ist ein Signal. Auch Oliver läßt seine Stiefel volllaufen. Mein Ärger, dass dies nun doch passiert, hält sich die Waage mit meiner Freude über den Spaß, den sie dabei haben. Jetzt hält es auch die anderen nicht mehr. Britta und Holger gehen zum Wasser. "Zieht doch Eure Schuhe aus" - nichts da. Patsch, sind sie mit ihren Schuhen drin. Ich höre in mir: "Kinder sollten sich nicht die Schuhe nass machen. Was werden ihre Eltern sagen? Sie bekommen garantiert eine Erkältung." Und: "Wie sie sich freuen!"

Sandra bleibt bei mir. Ich nehme dies auf: Wenn ich jetzt mit Sandra ein Stück in Richtung Auto gehe, kommen die anderen aus dem Wasser. Erwachsenenangst, nicht mehr Herr der Situation zu sein. Meine unwohlen Gefühle wachsen. "Wir müssen nach Hause." Vorgeschobener Grund. "Ich habe Angst, dass Ihr euch erkältet." Schon ehrlicher. Dass mir am meisten Sorgen macht, von ihren Eltern Ärger zu bekommen, sage ich nicht. "Wieso - wir erkälten uns nicht." Ich spüre ihre Gelassenheit und mein blödes, ach so erfahrenes Erwachsenengehabe.

Dann geht Elke einfach tiefer ins Wasser. Mit allen Sachen! Schon ist sie bis zum Bauch eingetaucht. Das darf doch nicht wahr sein! Und: Wie sie sich freut, das muss ja unheimlich Spaß machen. Oliver folgt, Holger schreit vor Vergnügen. Britta taucht plötzlich bis zum Hals ein. Jetzt geht auch Sandra zum See. Dann sind alle dabei, auf- und abzutauchen. Es kommen andere Bedenken: Sie könnten sich verschlucken, sie könnten in zu tiefe Zonen kommen, ich verliere den Überblick, es wird gefährlich, ich sollte jetzt auch ins Wasser gehen, um sofort eingreifen zu können. Und es kommen andere Gefühle: Sie sind so souverän, sie reizen die Situation aus, sie werfen diese behindernden Erwachsenenregeln über Bord: "Man geht nicht mit Anziehsachen ins Wasser." "Man geht überhaupt nicht in ein Baggerloch." "Man muss wenigstens ein Abtrockentuch dabei haben." Sie leben jetzt - und wie! Elke schwimmt. "Ich kann nicht mehr stehen." Holger setzt sich, nur sein Kopf ist noch zu sehen, Britta schmeißt ihre Schuhe an Land, Sandra marschiert drauflos, Oliver taucht: "Hallo, ich ertrinke!"

Ich bin jetzt jenseits aller Erwachsenenregeln und Erwachsenenbedenken. Ich bin eingespannt in die Situation, wie sie von den Kindern gelebt wird. Ich bin fasziniert. Und hellwach und aufmerksam, um sofort helfen zu können, falls das nötig werden sollte. Ich bin voll von ihrem Vergnügen und ihrer Sicherheit. Ich bin wieder im Vertrauen zu ihnen und zu mir, wie vor Beginn der Wasserszene. Ich sitze am Ufer und genieße - mich, sie und das Leben. Es ist fantastisch und befreiend. "Komm doch auch." "Nee, ich habe keine Lust." "Na gut, aber wir."

Dann kommt Sandra ans Ufer. "Mir ist kalt." Dann Oliver. "Leute, ich habe jetzt Angst, dass es zu kalt wird. Kommt raus, ich hole etwas zum Abtrocknen aus dem Auto." Ich spiele mit, ich plane mit. Ich manage und weiß, wie man jetzt wieder warm wird. Ich stehe auf ihrer Seite, ich stehe ihnen zur Seite. Sie kommen nach und nach. Die Abtrockensachen - Pullover, die im Auto sind - reichen gerade. "Wer trocken ist, rein ins Auto. Lasst die nassen Sachen liegen und wickelt Euch in die Autodecken." In mir ist Gewißheit, wir bekommen das hin. Wenn sie sich ausziehen und einwickeln, kann es keine Erkältung geben. Das Abtrocknen ist ein Riesenspaß. Ich packe ihre Sachen zu "Familienhaufen" zusammen, damit es nachher beim Aussteigen schneller geht. Dann ist es soweit, wir fahren ab. Heizung volle Kraft, die Scheiben beschlagen, der Wagen voller Leben, Spaß, Vertrautheit, Abenteuer und Glück.

Donnerstag, 29. Dezember 2016

Du musst Dich nicht bemühen


Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir etwas dafür tun. So etwas will im rechten Verhältnis sein: Geben und Nehmen, Bemühen und Erhalten. Das ist eins von vielen Grundmustern des Lebens. Wie soll auch geschehen, was ich will, wenn ich mich nicht dafür einsetze und etwas dafür tue?

Heute will ich nachts in den Wald zum Meditieren. Was ich dafür tun muss: nun, ich mache mich auf den Weg, schaffe den Weg, komme an. Den Weg zurücklegen ist der Einsatz, um in den Wald zu kommen. Hab ich ja auch gut erledigt. Ich bin angekommen und beginne mit dem Nachsinnen.

„Du musst Dich nicht bemühen.“ Sanft und langsam, ein Hauch. Wortlos noch, kein Satz. Aber es formt sich. Ich erkenne dann mit Worten, was sich mir mitteilt. Es ist der Wald, die Nacht, der Zauber der Stille, das Wesen der Ruhe. Was auch immer es ist: es ist nicht zu überhören. Und es spricht mich an. Und ich lasse mich ansprechen und höre zu.

Es ist eine sehr gewisse, machtvolle und ruhige Botschaft. Sie will nicht gehört werden: sie ist da und kann gehört werden. Sie ist fest verankert in der Energie der Konstruktivität. Sie ist Vertrauen. Alles steht mir zu, alles wird mir zufließen, alles wird mich tragen. Es ist etwas Freundlich-Schelmisches dabei, etwas Verschmitztes. Weil es so selbstverständlich ist und weil es so schwer zu merken ist.

Wenn ich mich bemühe, entferne ich mich. Ich bin dann nicht dort, wo ich sein will, sondern ich bin im Dorthin-Eilen. In der Mühe eben. Es ist so ungewohnt: Alles fließt mir zu? Das stimmt doch gar nicht. Ich will so vieles erreichen und bemühe mich unentwegt. „Musst Du nicht tun. Lass Dich in Ruhe. Du liebst Dich doch. Dann tu es einfach. In allem und jedem. Vertrau dieser Kraft. Mehr ist nicht zu tun.“

Es ist eine seltsame Botschaft heute Nacht. Gegen alle Logik und Lebenserfahrung. Erkennbar paradox. Wirklich? Ich habe auf einmal Zugang zu dieser Widersprüchlichkeit, sehe ihre Harmonie und fühle mich wohl und willkommen in dieser Zauberei. In dieser Realität der Liebe. Ja, ich habe vom WU WEI von Lao Tse gehört. Ist es das? Ist im Bemühen zuviel Mißtrauen, ganz grundsätzlicher Art?

„Du musst Dich nicht bemühen“ kommt aus tiefer Liebe zu mir selbst, aus dem Vertrauen in das Leben und den Sinn. Dem ich nachgeben kann, hier im Dunkel der Nacht, in der Konzentration der Stille und dem Atem des Waldes. Es ist ein Raum, der ja auch da ist und in den ich gehen kann, wenn ich das will. Ich entscheide, wie immer, welchen Weg.

„Es erfüllt sich. Es wird schon. Es kommt so, wie es richtig ist. Es geht gar nicht anders. Dein Bemühen hält das Fließen nur auf. Laß es geschehen.“ Alles sehr fremd. Alles sehr vertraut. Eine Gewißheit jenseits der Erklärung. Alltagstauglich? Auf dem Rückweg lasse ich dieses Befragen. Ich lasse es einfach gelten und zu mir gehören. Ich habe verstanden: Ich muss mich auch nicht bemühen, das alles zu verstehen. Wahrheit kommt auf vielen Pfaden.

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Nachtrag, etliches später: Ich muss mich nicht bemühen, aber ich kann mich bemühen. Wenig oder viel, wie es kommt und wie ich es will. Ich bin ja nun nicht im Klub der Nicht-Bemüher gelandet. Ich habe nur gemerkt, dass ich da etwas nicht muss. Es hat mich entspannt, freundlich berührt. "Wenn Du willst, kannst Du Dich bemühen. Aber Du musst es nicht tun." Und noch ein Flüstern mehr: "Bemühen kostet Kraft, Kraft, die Du ins Erleben fließen lassen könntest." Nicht-Bemühen hat mit Vertrauen zu tun. Bemühen mit Nicht-Vertrauen. Wobei es dann aber auch an einer anderen Stelle der Lebenswiese das Bemühen mit Vertrauen gibt, klar doch. Aber heute war es diese Botschaft: "Du musst Dich nicht bemühen ...".

Montag, 26. Dezember 2016

Bist Du glücklich?


Der Text ist wieder aus meiner Schatzkiste. Ich finde meine Sprache von damals etwas ungelenk, aber ich setz den Text mal so rein, wie er ist und wie er kam. Mir geht durch den Kopf, dass es vielleicht etwas unverfroren ist, solche Gedanken heutzutage zu haben - angesichts des ganzen Chaos ringsum. Die Wichtigkeiten in meiner eigenen kleinen Welt wollen aber auch gesehen und gehegt und gepflegt werden, das übersehe ich nicht. Ich bin heute Nachmittag gejoggt, Wald, grauer Himmel, Nieselregen, Weihnachten. War ich da glücklich? Bin ich es jetzt, hier beim Schreiben, mitten in der Nacht? Wenn ich so in die Tiefe gehe, kommt ein "schon, doch, klar". Kein Aber. Also: Frag ich mal nach.

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"Bist Du glücklich?"

Einmal ganz abgesehen davon, was das denn sein soll: „glücklich sein“ – irgendetwas Sinnvolles wird da jeder parat haben. Aber die Frage! Sie trifft mich. Sie hält mich an. Sie geht in die Tiefe. Sie dringt vor zum anderen als Person. Wann fragen wir den anderen? Fragen wir unsere Kinder, ob sie glücklich sind? Kann man Kinder überhaupt so etwas fragen? Welche Antwort könnte es da schon geben? Es wird wahrscheinlich etwas seltsam werden, das Gespräch. Wichtiger ist, dass wir uns diese Frage an unsere Kinder selbst vorlegen, im Stillen fragen: Ist dieser Mensch da vor mir glücklich? Mit seinen 2, 4, 6, 8, 10 ... Jahren?

Mit einer solchen Bereitschaft zum anderen sehen, der stillen Frage nach seiner Zufriedenheit, seinem Wohlbefinden, seinem Glück. Die Verwobenheit mit dem Glück des anderen zerrinnt leicht, geht unter im Alltag. Man kann diese Frage aber immer mal wieder hervorzotteln, den Blick zum anderen auf einmal ganz konzentriert werden lassen, ihm nah sein und diese Frage an ihn in sich selbst spüren.

Bin ich glücklich? Die Frage nach dem Glücklichsein geht auch an mich. Selbstliebe läßt diese Frage zu und geht auf mich zu. „Bist Du glücklich?“ frage ich mich, und allein das Kümmern um mich selbst, das in dieser Frage lebt, ist Kraft und Wärme. Das Kümmern um mich selbst spüren und willkommen heißen. Und dabei wie durch Zauberei merken, dass diese Frage nach innen, an mich, auch nach außen geht, mich zu Dir hinsehen läßt und Dich fragen läßt: „Bist du glücklich?“

Bist Du glücklich? Wenn wir uns verlieben, stellt sich diese Frage nicht wirklich. Sie ist überflüssig, weil wir glücklich sind und dies auch von der geliebten Frau und dem geliebten Mann als ihre Wahrheit erfahren. Aber das Glücklichsein mit dem Partner und das Glücklichsein des Partners ist ein feines und zerbrechliches Gebilde. Doch die Bereitschaft, die Offenheit für ihr und für sein Glück hilft gegen das Zerrinnen. Also frage ich nach Deinem Glücklichsein, nach Dir. Es macht bei den Erwachsenen Sinn, wirklich zu fragen und die Antwort des Partners zu hören und zu spüren und zu fühlen. Das hat eine eigene Dynamik. Es kann helfen und heilen. Und Mut machen, dann das zu tun, was zu tun ist.














Samstag, 24. Dezember 2016

Melanie


Weihnachten, Heiligabend, ich überlege, was ich heute posten könnte. Ich krame in meiner Schatzkiste. Damals, als ich amications-forschungsmäßig unterwegs war, gehörte Melanie zu einer meiner Kindergruppen. Einmal hatten wir ein wunderschönes Erlebnis, in meinen Aufzeichnungen steht es so:

Melanie ist drei jahre alt, als wir an einem schönen Sommertag auf der Wiese am Fluss sitzen. Melanie, ihre Mutter und zwei Freundinnen, und ich. Melanies Mutter will in der üblichen Art ihrer Tochter vermitteln, wie gefährlich es sei, nah an der steilen Uferböschung zu spielen. Sie erklärt und warnt. Melanie reagiert typisch: sie sieht vor sich hin, dreht sich weg und signalisiert deutlich: "Lass mich in Ruhe, ich komme zurecht.“

Ich schweige und beobachte. Und ich biete mich - wortlos, ohne Aktion - Melanie an, falls sie nach mir suchen sollte. Melanie beginnt mit mir zu spielen. Die Böschungsfrage ist ungelöst. Kerstin vertraut mir jetzt ihre Tochter an und wendet sich ihren Freundinnen zu. Ich komme mit Melanie näher zur Böschung. In mir ist keine Angst und kein Anspruch, stellvertretend für dieses selbstverantwortliche Geschöpf des Universums die Entscheidungen "zu Deinem Besten" treffen zu müssen. Ich traue ihr zu, die Böschungsfrage selbst richtig zu entscheiden. Und ich weiß auch, dass ich mich in einem Unglücksfall auf mich verlassen kann. Melanie und ich: Wir beide können uns auf die Situation und aufeinander einlassen.

Und dann erlebe ich, wie sich ein junger Mensch von drei Jahren mit dem Fluss, den Strudeln, der Gefahr, dem Risiko, dem Steinwerfen, den Blumen, der Sonne, dem Wind beschäftigt. Wie sie lebt, lacht, ängstlich ist, mutig ist, stolz ist, sich erkundet und die Welt begreift. Wir sind in einer vertrauten, sehr nahen Beziehung, und es ist etwas von Achtung, Geheimnis und Andacht zwischen uns. Obwohl sie nichts direkt mit mir tut und ich ihr nur gelegentlich Grasbatzen locker mache zum Hineinwerfen, erleben wir dabei auch uns.

Die anderen sind vergessen, und wir begegnen uns als gleichwertige und freie Menschen in einer tiefen emotionalen Dimension: So, wie sie sich vertraut, kann ich mir und ihr vertrauen. Ihr Selbstvertrauen erreicht mich ungehindert, fegt das Bedenken, dass sie zu Schaden kommen könnte, fort und bestätigt das tief in mir lebende Gefühl aus meiner eigenen Kindheit, dass jeder von uns ein König und eine Königin ist - ein Ebenbild Gottes. Ich spüre ihre Kraft und ihre Stärke - so, wie ich mir in ihrer Gegenwart selbst sicher bin.

Mittwoch, 21. Dezember 2016

Sternenhimmel


Es ist Nacht. Ich bin draußen, in den Feldern. Ich liege auf meiner Isomatte und bin warm angezogen. Ich habe ein Kissen unter dem Kopf und sehe. Das Nachtdunkel, und darin die Sterne. Lichter, Punkte, größere, kleinere. Einige erkenne ich wieder, Orion, Pleiaden, Wagen, Himmels-W. Jupiter ist nicht zu verfehlen. Halbmond. Von den Lichtpunkten über mir weiß ich, dass darunter unzählige Galaxien sind, die ich nur als Punkt wahrnehme. Milchstraßen, mit Übermillionen Sternen. Und dass es Übermillionen Milchstraßen gibt. Dann höre ich auf nachzudenken.

Ich lasse mich fallen in diese Dunkelheit mit den Lichtern. Wer bin ich – wer seid ihr? Was passiert in mir, Sternschnuppe? Es ist eine grandiose Harmonie, die ich wahrnehme. Ich komme mehr und mehr zu mir. Meine Nähe zu mir ist meine Nähe zum Universum. Meine Nähe zu mir kommt als Selbstliebe daher, meine Nähe zum Universum als Vertrauen und Vertrautheit. Ich bin mit all diesem in Beziehung, Verbindung, Resonanz.

Es muß sich nichts ändern. Es kann sich alles ändern. Und es ändert sich ja auch immer wieder. Sterne vergehen und entstehen. Meine Wege lösen sich auf und beginnen neu. Meine Winzigkeit hier unten ist mein Universum, und ich nehme die Zuversicht der Sternenwelt gegen meine Verzagtheiten.

Die Selbstliebe ist ein nicht endender Klang. Wenn ich ihn nicht mehr höre, wenn Aufgeregtheiten und Ärgernisse mich in unangenehme Welten ziehen – dann gehe ich dorthin, wo ich mir die Harmonie ansehen kann: unter den Sternenhimmel. Wo der Klang der Großen Liebe aus den unendlichen Tiefen des Kosmos meine Selbstliebe wieder zum Schwingen bringt.

Sonntag, 18. Dezember 2016

2050? 2100? 2200? IV


Thema Schule, 4. Fortsetzung. Bei meinen Bildern geht es mir ja darum, die theoretischen Überlegungen zur Schulthematik mit emotionalem Leben zu füllen. Bei diesem Bild kann man sich mitnehmen lassen und mitgehen. Ich bin hier auf Kommentare und Rückmeldungen mehr gespannt als sonst. Also: Bild 3 aus meinem Buch "Schule mit menschlichem Antlitz".

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››Vergangenheit, 1880-1999«, Öl auf Holz

New Mexico, im Sommer 1999. Sie machen Ferien in Amerika. Und da Sie sich schon immer für die indianische Kultur interessiert haben, besuchen Sie die Navajos in der Four-Corners-Region und halten sich nun schon drei Wochen bei ihnen auf, in der Reservation am Mount Taylor. Sie haben viel gesehen und unternommen und neue Freunde gewonnen.

Eines Tages fragt Sie Ihr indianischer Freund Tatanga, ob Sie sich nicht einmal das Museum anschauen wollen. "Ihr habt ein Museum? Klar, das interessiert mich!" Sie sind gespannt und erwarten neue Einblicke in die Lebenswelt der Indianer.

Nach einer Weile Fahrt durch die faszinierende Landschaft kommen Sie zu einem schlichten Holzhaus. Es ist schon älter, wirkt aber gepflegt. Niemand ist da, der Sie und Ihren Freund begrüßt, aber die Tür ist offen, und Sie gehen hinein. Der Raum, den Sie zunächst betreten, sieht wie das Klassenzimmer einer Schule aus. Bänke, Stühle, eine Tafel, einige Bücher. Wahrscheinlich werden hier Vorträge zur Geschichte der Indianer gehalten. Nach einem kurzen Blick in die Runde wollen Sie den Raum verlassen, denn es gibt nichts besonderes zu sehen. Aber Tatanga macht keine Anstalten hinauszugehen. Er steht mit ernstem Gesicht in der Nähe der Tafel und sieht aus dem Fenster. "Lass uns hier weggehen, das ist doch nur der Raum für Vorträge. Wo sind die Exponate?", sagen Sie. Doch Ihr Freund verzieht keine Mine und rührt sich nicht. "Was ist los?", fragen Sie. "Wir sind im Museum", sagt er. "Na klar", antworten Sie, "aber hier ist doch nichts. Zeig mir die richtigen Räume."

Tatanga dreht sich zu Ihnen um und sieht Sie voll an. "Du bist im Museum. Es ist hier, dieses Haus, auch dieser Raum. Unser Museum ist eine Schule." "Wieso - eine Schule?" Sie sind enttäuscht. Was ist an einer Schule interessant? Ihr Gesicht spiegelt Unverständnis. Tatanga lächelt. "Ich weiß, dass Du jetzt enttäuscht bist. Aber dies hier ist wirklich unser Museum. Weißt Du, in diesem Haus wurden die Eltern meiner Großeltern, meine Großeltern und auch noch meine Eltern unterrichtet. Von weißen Missionaren und Lehrern. Sie sollten 'zivilisiert' werden. Mit Eurer Kultur. Mit Eurer Denkweise. Sie mußten Eure Buchstaben lernen. Eure Art, die Welt zu sehen. Ihre kulturelle Identität - ihre Persönlichkeit ..." Er schweigt, und dann sagt er leise: "Zumindest haben sie es versucht."

Sie stürzen in einen Strudel voller Gefühle. Ihr abstraktes Wissen vom kulturellen Imperialismus der Weißen wird hier konkret, an diesem Ort: Hier, in diesem Raum fand das alles statt. Die Präsenz dieser Ungeheuerlichkeit nimmt Ihnen den Atem. Empörung, Wut, Hilflosigkeit und tiefe Scham branden auf. Sie fühlen das Leid, das Entsetzen, die Ohnmacht dieser Menschen. Sie hören die Kommandos der Lehrer, das unbeugsame leise und laute Nein der Kinder, die verzweifelten Schreie der Mütter, denen die Kinder von den Soldaten aus den Zelten gerissen werden, und Sie spüren den unendlichen Zorn und die bodenlose Hilflosigkeit der Väter. Sie sehen den Kampf dort und das Niederringen der Seelen hier. Die Brutalität und Demoralisierung dieser "Zivilisierung" springen Sie an. Wie in Trance starren Sie in den Raum, und als Sie endlich zu Tatanga sehen, ist er nicht da. Sie verlassen das Museum, dieses Mahnmal gegen die Unmenschlichkeit, setzen sich unter einen Baum und überlassen sich erschöpft Ihren Gefühlen. Und Sie verstehen.

Als Sie Welten später aufblicken, sehen Sie die stolzen Indianerkinder von damals vor Ihnen stehen. Sie schauen sich an. Und auf einmal verstehen Sie wirklich: "Das stolze lndianerkind - das bin ja ich!" Tränen schießen Ihnen in die Augen. »Auch ich wurde in ein solches Haus geschafft. Auch vor mir stand ein Lehrer. Auch ich wurde gebeugt und gebeugt und gebeugt. Subjekt, Prädikat, Objekt. (a + b)  -  (a + b). Schule. Jeden Tag." Und Sie halten sich selbst fest. Ganz fest.

Samstag, 17. Dezember 2016

2050, 2100, 2200? III


Fortsetzung vom 14.12. Als ich mit meinen Kindern einmal in England war, haben wir auch den Tower und die dort ausgestellten Kronjuwelen besichtigt. Das Erlebnis von damals hat mich zu dem folgenden Wort-Bild in Sachen Schule inspiriert. Hier nun der dritte Post zur Schulthematik aus meinem Buch "Schule mit menschlichem Antlitz".

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"Zukunft, 2215", Aquarell

London, im Mai 2215. Sie sind in den Ferien in England und kommen nach einem erlebnisreichen Vormittag zum Tower. Seit langer Zeit ist in dieser ehemaligen Trutzburg ein Museum eingerichtet, unter anderem sind die Kronjuwelen des britischen Königshauses dort dauernd ausgestellt. Doch diesmal gastiert eine Sonderausstellung, die für viel Aufsehen sorgt und die Sie sich nicht entgehenlassen wollen. Dort lassen sich "Werkzeuge der Schule des 20. Jahrhundert (1900-2000)" besichtigen.

Wie immer sind die Räume abgedunkelt, und die Besucher können im Kreis um die Exponate herumgehen. Das Besondere dieses Museums ist, dass man nicht stehen bleiben darf, wegen des großen Andrangs. Wer länger schauen möchte, muß dazu auf den rückwärts gelegenen Balkon gehen, der ebenfalls kreisförmig die Exponate umgibt. Nun, Sie sind im inneren Kreis und sehen, was es zu sehen gibt, und gehen langsam vorwärts. Flüstern ist im Raum, gespannte Aufmerksamkeit.

Sie sehen hinter dem Panzerglas einen länglichen Gegenstand, etwa zwei Hände lang, mit vielen Symbolen versehen und anscheinend beweglich, ausziehbar. Sie haben keine Vorstellung davon, was das sein könnte. Sie lesen die kurze Beschreibung: "Mathematik-
unterricht - Rechenschieber". Raunen umgibt Sie. Eine Frau liest aus dem Katalog: "Damit wurden die Kinder damals angehalten, ihre Gedanken in Zahlen zu zwingen und ihre Harmonie mit der Welt zu zerteilen. In Ad-die-ren und Sub-stra-hie-ren und Mul-ti-pli-zie-ren und Di-vi-die-ren." Und sie sagt, und damit spricht sie Ihnen aus dem Herzen: "Schrecklich!"

Sie wenden sich dem nächsten Exponat zu. Eine Stange. Sie ragt neben der Vitrine nach oben und ist fünf Meter lang. Was um alles in der Welt wurde denn damit gemacht? "Sportunterricht - Kletterstange" steht auf dem Etikett. Was ist eine Kletterstange? Ihr Nachbar erklärt: "Damit wurden die Kinder gezwungen, ihre Arme und Beine so zu bewegen, wie der Lehrer es wollte. Die Kinder mußten da hinaufklettern."  Sie sind entrüstet: "Die haben sie gezwungen, ihre Arme und Beine? Die Kinder konnten über ihren Körper nicht selbst bestimrnen? "Schule", sagt Ihr Nachbar, "Schule!"

Weiter geht es im Kreis. Nun sehen Sie ein Blatt Papier. Es enthält Sätze, aber diese Sätze sind voller Lücken. Was soll das? Sie lesen die Beschreibung für die Museumsbesucher: "Deutschunterricht - Arbeitsblatt zum Ausfüllen". Wieder verstehen Sie nichts. Sie hören, wie zwei andere Besucher kommentieren: "Mit diesen Papieren wurden die Kinder in die vorgezeichneten Bahnen der Sprache gezerrt. Es gab besondere Regeln, wie die Sprache benutzt werden mußte. Nichts erfolgte authentisch, so wie wir heute sprechen. Die Kinder mußten das, was sie sagten, analysieren und diesem System unterwerfen. Man nannte das 'Grammatik' und es gab so seltsame Teile wie 'Subjekt, Prädikat, Objekt'. Die Kinder mußten die gesamten Regeln kennen und durften ihre Sprache nicht einfach benutzen und lieben. Sie entwickelten Abscheu zu ihrer Sprache und zu ihren Gedanken, wegen all dieser Unterdrückung. Unvorstellbarl" Ihnen schaudert, als Sie sich vorstellen, dass Kinder in das Korsett von Sprachregeln gezwungen wurden. "Und darin soll ein Gewinn gelegen haben?" Ihr Nachbar stellt sich als Historiker vor und sagt: "Ja, es gab einen großen Vorteil - für die, die andere beherrschen wollten, die sie sich gefügig machen wollten. Ihr Mittel war, durch die Schule ihre Gedanken und ihre Sprache unter Kontrolle zu bekommen.«

Eigentlich reicht es Ihnen jetzt und Sie haben genug von der "Schule des 20. Jahrhunderts". Aber noch müssen Sie im Kreis weiter. Nun sehen Sie einen hölzernen Gegenstand. Es ist ein Kasten, mit runden Kanten, und mit einer Stange am oberen Ende, versehen mit Drähten. Das Ganze etwa armlang. Was ist denn das und was wurde damit gemacht? "Musikunterricht - Geige" lesen Sie. Sie schauen in Ihren Katalog:

"Die Geige war kein reguläres Werkzeug der Schule, sondern sie war der Disziplinierung von Kindern mit besonderer musischer und spiritueller Begabung vorbehalten und diente der 'Strategie der Demoralisierung'. Diese Kinder waren am Anfang ihres Geigentrainings stets vollauf begeistert und sie öffneten ihre Herzen. Doch diese Offenheit verflog rasch - aber sie hatten einmal eingewilligt und durften sich dann nicht mehr vom Geigespielen lösen. Denn mit diesem Gerät sollte die besondere Sensibilität dieser Kinder in die gewünschten Bahnen gelenkt werden. Man bediente sich akustischer Impulse (Töne), die von den Kindern selbst hergestellt werden mußten. Sie hatten die Finger ihrer linken Hand und den rechten Arm mit einem 'Bogen' in ganz bestimmter Weise zu bewegen, urn die gewünschten Frequenzen zu erzeugen. Fixiert wurde mit sogenannten 'Noten'. Und da die Experten auf diesem Gebiet derart schwierige Übungen vorschrieben, die von den allermeisten Kindern niemals korrekt ausgeführt werden konnten, war der Effekt die gewünschte Demoralisierung und das benötigte Minderwertigkeitsgefühl. Von der steten Unlusterfahrung, in einem hochsensiblen emotionalen Bereich etwas tun zu müssen, was man nicht will, ganz zu schweigen. Und die wenigen Begabten, die das wirklich konnten und gern machten, wurden all den anderen als Norm vorgehalten, und die Unerreichbarkeit dieser Vorbilder steigerte das Gefühl des Versagens."

Nun graust es Ihnen endgültig: Strategie der Demoralisierung? Herzen und Finger der Kinder zwingen? Der Katalog weist über 200 Exponate aus - erst vier haben Sie gesehen. Aber Sie brauchen Licht und Luft und sind froh, als Sie das Schild "Ausgang" sehen: Nichts wie raus hier! Draußen setzen Sie sich auf eine Bank und blättern im Katalog. Sie halten inne - und mit einem entschlossenen "Nein" werfen Sie den Katalog in den Papierkorb. "Banause" hören Sie jemanden rufen. Sie lächeln zurück.

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Heute berichtete mir die Mutter eines Siebenjährigen von "Steinen". Die Lehrerin hatte den Kindern vor vier Wochen ein leeres Heft mit nach Hause gegeben. Sie sollten sich ein Thema aussuchen, darüber etwas ins Heft schreiben und illustrieren, und dann ihre Arbeit  in der Klasse vorstellen. Alle stellten gestern ihre Hefte vor. Anschließend wurden die Hefte auf einen freigeräumten Platz in die Mitte des Klassenzimmers gelegt. Alle konnten sich die Arbeiten noch einmal ansehen. Und sie dann so bewerten: Jedes Kind hatte einen kleinen Stein. Den legte es auf das Heft, das ihm am besten gefiel.

Es kam, wie es kommen mußte: einige Hefte hatten viele Steine, einige wenige, einige keine. Aber was hatte sich die Lehrerin um alles in der Welt dabei gedacht? Hatte sie in ihrer Ausbildung nicht ein Mindestmaß an Psychologie rezipiert? Hatte ihr die "gute Idee" den Blick auf das verstellt, was bei den Kindern ablaufen mußte? Strahlende Gesichter:" Ich habe viele Steine bekommen!". Wortloses Blicksenken: "Ich habe keinen Stein bekommen." Doch was geht hier im Untergrund, in der Seele ab? Konkurrenzdenken fördern. "Ich bin besser als Du, ich habe mehr Steine!" Versagungsängste fördern. "Ich habe keinen Stein und tauge nichts!" Angeberei in die Klasse tragen. Schlechte bestrafen und Minderwertigkeitsgefühle produzieren. Motivieren der Guten auf Kosten der Schwachen. Demotivieren von eh schon Schwachen. Dieses Steine-Werkzeug der Schule des 21. Jahrhunderts ist im Museum gut aufgehoben!

Die Mutter war entsetzt. "Mein Sohn hat erzählt, dass das schon seit der ersten Klasse so geht.  Er hat bis heute noch nichts davon erzählt - er nimmt das als Standard. Ich glaub's nicht!" Wann ändert sich etwas? 2050? 2100? 2200?

Mittwoch, 14. Dezember 2016

2050, 2100, 2200? II


Heute kommt die Fortsetzung des Posts zur Schule vom 12.12.

Im Unterschied zu früher (vor 30 Jahren) ist es heute politisch korrekt, nicht mehr konfrontativ vorzugehen. "Schule ist Kindesmisshandlung und missachtet das Menschenrecht auf Gedankenfreiheit" - das hatte ich mal hinten in das Rückfenster meines Autos montiert. Ausgeheckt mit Raja, 14 Jahre alt. Es kam unterschiedlich an! Nein, heute sollen die Adressaten (Eltern, Lehrer) warmherzig und einfühlsam angesprochen werden. So, dass sie nicht sofort zumachen. Doch ehrlich, ich frage mich: Könnte ich wirklich einen Kindes-
misshandler/missbraucher/schänder warmherzig und einfühlsam ansprechen? Ich fühl mich auch dem Klartext im Wort. Nur: wenn das niemand hören will? Weil er doch so ein netter Lehrer oder Onkel ist und weil die Schule doch so gut für die Kinder ist? Lieber soft ranpirschen an das Ungeheurliche? Wie sag ich dem Fleischesser, dass er mit seiner Fleischesserei Tierleid befördert und Qualfleisch frisst, dem Milchtrinker, dass er Kuhmütter missbraucht, die ja wegen seiner Michsauferei einen widernatürlichen Dauermilch-
produktionsstress unterworfen werden? Wie sag ich's also der Lehrerschaft und dem ganzen pädagogisch-industrieellen Komplex (von Lehrern bis zu Schulmöbelherstellern)? So, dass ein Aufmerken, eine Sensibilität, ein Bewußtsein von dem Unrecht entstehen kann, könnte, das durch sie kommt? Gedankenfreiheit für Kinder ... so weitweitweit. Doch schau'n wir mal! Jetzt geht's weiter mit dem Text aus meinem Buch "Schule mit menschlichem Antlitz".

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Die Abschaffung der Schulpflicht bedeutet das Ende des Lernzwangs und das Ende der
heutigen Schule. Doch die Gebäude lassen sich weiter nutzen, und das Personal, die Lehrer, können eine wichtige neue Aufgabe übernehmen. Was sollte die Kinder denn davon abhalten, in Gebäude voller Ressourcen zu gehen, wenn sie dies nicht müssen und wenn sie niemand daran hindern darf? Wenn es dort freundliche und achtungsvolle Leute gibt, die für sie da sind, als Personen und fachliche Experten? Deren Angebote interessant, ja faszinierend sind? Lernen ohne Sollen öffnet das Tor, das Schultor, hinter dem die Kinder heute gefangen sind.

Ob sie jemals wieder einen Fuß durch dieses Tor setzen werden, wenn sie es nicht mehr müssen, wird von vielem abhängen. Die Erwachsenen werden sich schon anstrengen müssen, wenn sie etwas von ihrem Wissen von der Welt weitergeben wollen. Aber nur so wird es gehen: Das Angebot einer neuartigen Schule steht in Konkurrenz zu allem anderen, was sich den Kindern anbietet, wenn die Schulpflicht aufgehoben ist.

Die Abschaffung des Zwangslernens vergrößert die Basis der Demokratie: junge Menschen werden als vollwertige Burger - als Bürger, die über ihr Denken und Lernen selbst bestimmen - in der Gesellschaft willkommen geheißen. Wenn in der Aufhebung der Schulpflicht eine Gefahr für Kinder gesehen wird (Kinderarbeit, Ausbeutung u. a.), dann kann man etwas dagegen tun. Begleitende Gesetze sorgen dafür, dass das Recht der Kinder, über ihr Lernen selbst zu bestimmen, nicht zu ihrem Nachteil wird. "Wer ein Kind gegen seinen Willen... wird bestraft." Unzählige solcher Schutzbestimmungen lassen sich ersinnen und in Gesetze fassen. Und bei entsprechendem gesellschaftlichen Willen auch effektiv durchführen. Den Kindern das Recht auf selbstbestimmtes Lernen zu ihrem Schutz zu nehmen ~ diese Verdrehung ist gänzlich überflüssig.

Die Schulpflicht wird nicht morgen und auch nicht übermorgen aufgehoben. Sie wird erst dann beendet sein, wenn hierüber ein gesellschaftlicher Konsens besteht. In den Parlamenten der Bundesländer muss es dafür jeweils eine Mehrheit geben, und ein solches Gesetz muss vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben. Wann wird das sein? Unzählige Diskussionen werden vorausgehen, auf allen Ebenen, kreuz und quer durch die Gesellschaft. Die anthropologische Grundlage, das Menschenbild vom Kind, wird sich ändern müssen. Der gesamte Umgang mit Kindern wird sich wandeln, bevor die Schulpflicht als Konsequenz aus dieser grundsätzlichen Veränderung von selbst aufgehoben wird.

Wann wird das sein? ln wie vielen Generationen? lm Jahr 2050, 2100, 2200? Irgendwann fängt jede Veränderung an, und die Veränderung hin zum Lernen ohne Sollen fängt jetzt an. Wenn die gesellschaftliche Situation so weit ist, dass allen Ernstes über die Aufhebung der Schulpflicht nachgedacht wird, wird es auf alle Fragen gute und überzeugende Antworten geben. Wir können nicht heute an einem einzigen Tag die Denkleistung eines halben oder ganzen Jahrhunderts zustande bringen. Eine Reise von tausen Meilen beginnt mit einem Schritt, sagt Lao Tse.

Die Vorstellung von einem Lernen ohne Sollen ist aber heute kaum vorhanden, denn als Kind erfuhr ein jeder, dass Lernen stets mit Sollen einhergeht. Dass Lernen und Sollen eine Einheit bilden, wurde 10 lange Schuljahre gelernt. Das muss so sein. Kinder müssen zur Schule, sonst lernen sie nichts. Die Anmaßung und Menschenrechtsverletzung, die ein solcher Satz enthält, ist schwer zu erkennen und schwer zu erfühlen. Und doch kommt es gerade darauf an. Wie könnte es gelingen, das Nicht-mehr-Erkennen und das Nicht-mehr-Fühlen zu überwinden? Es gibt sicher viele Wege hierzu, und ich unternehme jetzt gleich einen Versuch: Ich will mit den folgenden drei Bildern helfen, die verlorengegangene Sensibilität für die Würde des jungen Menschen und sein Recht auf selbstbestimmtes Lernen wiederzufinden. Die Bilder sind mit Worten gemalt, mit Tusche, als Aquarell und in Öl auf Holz.

Fortsetzung folgt

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Wenn ich diesen oder ähnliche Texte veröffentliche, die sich grundsätzlich mit der Schulthematik befassen, frage ich mich natürlich, ob das irgendeinen positiven Effekt hat. Doch, ich sehe so etwas: Ein bisschen Sensibilisieren für das Ungute an der Schule, ein bisschen Heilen der damaligen Demütigungen (dadurch, dass mit meinen Gedanken das Unrecht als solches erkennbar und benennbar wird), ein bisschen Entspannen, wenn die schulischen Anforderungen so alternativlos und selbstverständlich daherkommen, ein bisschen Mutmachen, Gedanken in eine freiheitlichere Richtung zu wagen, ein bisschen Runterkommen vom Hinterherhetzen hinter dem, was "die Schule" so alles von den Kindern und uns Eltern will. Halt ein bisschen...










Montag, 12. Dezember 2016

2050, 2100, 2200? I


Ich wende mich wieder einmal der Schule zu. Schule ist ja so ein weites Feld... Es sind Passagen aus meinem Buch "Schule mit menschlichem Antlitz".

*

Menschen lernen immer, denn Menschen können nicht nicht lernen. Die Frage ist nicht die, ob Lernen stattfindet oder nicht - Lernen findet immer statt! Die Frage ist, ob ein Kind das lernen muß, was die Erwachsenen vorgeben, oder ob es das lernt, was es selbst zu lernen entscheidet - ob Lernen mit oder ohne Zwang stattfindet. Soll ein Kind lernen? Das lehne ich als unzulässigen Eingriff in die innere Freiheit eines anderen Menschen ohne Wenn und Aber ab. Ich möchte keine Zivilisation und Kultur, die auf der geistigen Bevormundung, Unterdrückung und Versklavung der eigenen Kinder beruht - und nichts anderes sehe im Lernen mit Zwang. Wer soll entscheiden über das, was gelernt wird, individuell und gesellschaftlich? Das Lernen gehört demjenigen, der lernt - nicht anderen. Ich will keine Marionetten!

Auch mir ist es wichtig, mein Wissen von der Welt weiterzugeben. Ich bin für eine kulturelle Tradierung. Aber nicht als kulturellen Imperialismus wie in Afrika oder bei den Indianern. Als Angebot, als Kommunikation von Gleich zu Gleich. Vielleicht am Anfang schwer zu realisieren, aber nicht unmöglich. Bei jedem Auslandsurlaub kann man erfahren, dass so etwas selbstverständlich gelingt, auch in Afrika oder am Ende der Welt. Von sich, seinem Wissen, seinen Werten, seinen Gefühlen - in gegenseitiger Achtung voreinander - berichten, darüber ins Gespräch kommen, Geben und Nehmen. Ich will, dass jungen Menschen die Welt - das Erwachsenenwissen von der Welt - nicht oktroyiert wird, sondern dass es ihnen vorgestellt und anvertraut wird: zur eigenen Bewertung. Die Kinder entscheiden selbst, was sie übernehmen und was nicht.

Ich sehe keine Katastrophe kommen, wenn die Kinder außer dem Kleinen Einmaleins, das sie auch ohne Schule im Laufe ihres Lebens an jeder Ecke finden werden, nicht das Große Einmaleins und (a+b) . (a+b) beherrschen. Wer kann so etwas denn als erwachsener Mensch überhaupt noch? Braucht man das, um ein Auto zu kaufen oder um die Finanzierung des Eigenheims durchzukalkulieren? Man braucht es nicht. Ebensowenig wie den Sinus oder den Cosinus und all den anderen Tamtam, der Mathematik genannt wird. Für den Autokauf reicht das Kleine Einmaleins, für die Finanzierung frage ich die, die sich auskennen. Und solche Menschen wird es selbstverständlich auch geben: Weil wir in einer Welt leben, in der sich mit Mathematik Geld verdienen läßt, als Ingenieur, Architekt oder Finanzberater. Diese Menschen sind ein Bruchteil der Gesellschaft - es sind die Menschen, die eine Begabung für Mathematik haben. Sie werden ihre Begabung erkennen und fördern, und zwar auch ohne Schulpflicht und Mathematikunterricht für alle. Sie werden Examen machen und einen Beruf mit mathematischer Grundlage wählen. Es sind die Menschen, denen die geistige Herausforderung der Mathematik etwas schenkt, die sich ihren Aufgaben gern stellen, die ganz einfach Spass am Rechnen haben und vielleicht von der Virtuosität, Eleganz und Schönheit der Mathematik erfüllt sind. All die anderen Menschen aber, und das ist weiß Gott der größte Teil, bleiben mit dem abstrakten Hobby einiger weniger, das sich Mathematik nennt, bitte verschont.

Diese Überlegungen gelten für alle Schulfächer, für alle Hobbys, die dem einen sinnvoll, dem anderen nur skurril erscheinen. Das Lernen ohne Sollen ist nicht das Ende des Lernens, sondern das Ende des Sollens beim Lernen. Für wen ist es wichtig, zu wissen, wie lang der Amazonas ist? Wann die Pyramiden erbaut wurden? Wer Napoleon war? Was ein Subjekt, Prädikat, Objekt ist? Wie schnell der Schall ist? Was Licht und Schatten für die Kunst bedeuten? Was die Christen unter dem Pfingstfest verstehen? Wie die Zinsrechnung funktioniert? Aus welchen Teilen eine Blüte besteht? Meine Güte! Ja, natürlich, wen das interessiert. Aber wen interessiert das denn? Fragt sie, die Kinder. Und nicht vergessen: Die, die wir da fragen, sind vollwertige Menschen, souverän, keine Lernsklaven.

Fortsetzung folgt.

*

Ich habe das mit der Mathematik so ausführlich beschrieben, weil Mathe mein Lieblingsfach war. Und weil ich Mathelehrer war. Ich kenn mich da aus. Als Kind habe ich den anderen gern Mathe erklärt, wenn sie nicht weiterwußten. Und mich immer gefragt, wozu das denn gut sein soll, dass sie sich so damit abquälen. Als Mathelehrer habe ich dann auch gern erklärt, gerade auch den Schülern, die mit Mathe nicht klarkamen. Und ich habe eine Nachmittags-Mathe-AG eingerichtet, auf freiwilliger Basis. Nicht für die Guten, sonden für die Schwachen. Die Kinder haben mir eindrücklich klargemacht, was für ein Unrecht in diesem ganzen Zwangslernen steckt. Ihr Leid und ihre Ängste haben mich erreicht, ich habe mich dafür öffnen können. Und ich habe mit Demut vor diesen jungen Menschen gestanden, angesichts meiner Ungeheuerlichkeit. Heiliger Zorn stieg in mir auf! Was ließ sich tun, um das alles zu ändern?










Samstag, 10. Dezember 2016

Wo ist das Maggi?


Ich besuche meine Mutter. Zum Mittagessen nimmt sie einen Schuss Maggi, und zwar immer. Heute Mittag: "Wo ist das Maggi?" Das Maggi ist weg. Nicht auf dem Fensterbrett, nicht im Küchenschrank rechts, nicht im Küchenschrank links. Zauberei. "Ich kauf Dir nachher eine neue Flasche." Das will sie aber nicht. "Das Maggi taucht schon wieder auf." Ich kauf es trotzdem.

Und denke an der Kasse nach: Gehe ich zu weit? Bin ich übergriffig? Sie will doch kein neues. Ich finde aber, dass es da sein soll. Weil sie es jeden Tag hat. Ich mache mir also ihre Gedanken. Was ich oft tue: Mir Gedanken darüber machen, was für andere gut ist. Na ja, es sind meine Gedanken, diese Deine-Gedanken. Ich bin doch nicht altländisch-oben-unten unterwegs, rede ich mich raus. Außerdem und trotzdem und sowieso: habe ich nicht recht? Tja, da bin ich doch mal wieder im Alten Land unterwegs. Oder ist es nur meins, nicht Deins, was hier abgeht? Ich krieg das alles mit, an der Kasse, und nehm es mir nicht übel. Schmunzel über meine Besserwisserei. Wenn sie denn eine ist!

Wenn ich den anderen nicht in Ruhe lassen kann, wenn ich es für ihn so einrichten kann, wie es gut für ihn ist - besser als er das selbst weiß. Was spielt sich da ab? Warum lasse ich die Kinder nicht so hoch klettern, wie sie wollen? Warum nehme ich für Dich einen Schal zum Spaziergang mit? Warum bringe ich Mon Chéri und keine Rose mit, wenn ich nach Hause komme? Oder doch lieber die Rose? Ich bin verstrickt in dieses feine oder grobe Netz, das mich zu Dir sehen läßt in dieser Kümmerei. Nehm ich Dir dann etwas von Deiner Würde? Ist das ein Oben-Unten? Oder bin ich nur achtsam, so wie es gut ist zwischen uns? Wie bin ich denn unterwegs?

Wenn wir das immer wüßten! Weshalb also kauf ich das Maggi? "Mach Dir keine Gedanken, kauf es einfach." Na gut. Ich stelle das Maggi beim Abendessen auf den Tisch. "Danke, aber wär doch nicht nötig gewesen." "Na ja", sag ich.

Mittwoch, 7. Dezember 2016

Bildungsverständnis: neu


Hin und wieder führe ich Seminare für Tagesmütter und Tagesväter durch. Daraus ist dieser
Text entstanden: Die „neuen“ Tagesmütter und Tagesväter oder Professionalität mit menschlichem Antlitz.

Wenn man angeleitete und von außen bestimmte Kinder im Sinn hat, muss der Erwachsene
entsprechend anleiten und das Lernen der Kinder von außen, d.h. von seinen Vorgaben her
bestimmen. Derartiges hat eine lange Tradition, ist voll bester Absicht und meist von großem
Engagement - aber immer wieder fruchtlos und für beide Seiten frustrierend. „Ich komme an
die Kinder gar nicht richtig heran“ schwingt dann beim Erwachsenen mit, der gesenkte und
verschlossene Blick und das stumme „Lass mich in Ruhe!“ ist die korrespondierende `
Grundstimmung des Kindes.

Es gibt heute ein neues Bild vom Kind und ein neues Bildungsverständnis: Ein Kind kann
nicht (passiv) gebildet werden, sondern es kann sich nur selbst (aktiv) bilden. Wenn man
das ernst nimmt, kann man kein Kind mehr direktiv anleiten und kann man kein Lernen mehr
nach den eigenen Vorgaben bestimmen. Dann ist es aus mit der traditionellen Aufgabe und
Rolle der missionierenden Fachleute, so bemüht und gutwillig sie auch sind. Dem neuen
Bild vom Kind als einem aktiven innengesteuertem Wesen tritt dann ein entsprechendes
neues Bild des Erwachsenen zur Seite, der sich um die Bildungsprozesse dieses - „neuen“ -
Kindes kümmert.

Der traditionelle Erwachsene war oft pädagogisch (vor- bzw. aus-)gebildet und verstand sich
um so professioneller, je mehr er als Person zurücktrat zugunsten all dessen, was er als gut
und zielführend für die kindliche Bildung erlernt hatte. Er ging wie mit dem weißen Kittel des
Fachmanns zum Kind, um es entsprechend seiner Professionalität zu fördern. Wen er hinter
dem weißen Kittel verbarg, war unwichtig, ja störend. Seine Stimmungen und Gefühle, seine
Person störten das, was seine Aufgabe war. Er hatte alles Persönliche zurückzustellen, um
frei von diesen persönlichen Irritationen ganz für das Kind da zu sein, als fachlich versierter
Experte.

Die „neuen“ Kinder werden nicht länger als zu missionierende Wesen angesehen, sondern
als sich selbst gehörende Geschöpfe, mit innerer Souveränität und unantastbarer Würde,
als Personen, die ihren eigenen Bildungspfaden folgen, so, wie diese sich ihnen nach
eigenen Gesetzen eröffnen. Diese Kinder benötigen für ihre Entwicklung Personen, keine
Experten im weißen Kittel. Leibhaftige Personen, mit Ecken und Kanten, Haken und Ösen.
Persönliche Wahrhaftigkeit ist gefordert, „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ statt „Sieh
das ein, ich habe recht“. Sich trauen, Umleitungen, Irrwege und Fehler riskieren, Mut zum Nichtüberschaubaren haben, einen Schuss Surrealismus und Nonsens mitbringen, Zufall
und Spielerei statt zielgerichteter Effektivität wichtig finden, sich treiben lassen in die
Beziehung zum Kind und in den Augenblick statt alles und jedes gekonnt inszenieren.

Das Motto dieser neuartigen Professionalität könnte sein „Wir hatten einen schönen Tag“.
Mehr muss nicht sein. Wer auf Kinder aus sich heraus zugeht, ohne List und Hinterlist - der
erreicht sie auch. So einfach ist das. Und so schwer: denn gegen dieses humane Prinzip
der persönlichen Wahrhaftigkeit steht die Wucht und Macht eines pädagogischen Effekti-
vismus, der bis ins letzte Detail genau weiß, wie so ein Vormittag zu laufen hat. Nichts da!
Niemand weiß,wie so ein Vormittag laufen wird! Personen treffen sich, die Tagesmutter
oder der Tagesvater und die Kinder, ein jeder mit seinem aktuellen und situativen Hinter-
grund, und diese Personen gehen miteinander um. Derartige Begegnungen von Person zu
Person laufen in unzähligen Varianten und Nuancen ab, nicht gesteuerte Beziehungen
zwischen einem präsenten Erwachsenen und sich bildenden Kindern.

Der „neue“ Erwachsene und das „neue“ Kind sind gleichwertig, und ihre Würde ist
gleichgewichtig. Sie sind gleich kompetent für das eigene Lernen, die eigene Entwicklung,
die eigene Bildung. Selbstverständlich lernt, entwickelt und bildet sich bei einer solchen
rehumanisierten Kommunikation auch der Erwachsene: er ist offen für die Große Vielfalt
der Kinder und schwingt in ihre Aktivitäten ein. Wobei er immer wieder auch an seine
(Erwachsenen)Grenzen stößt, die er gewahrt wissen will und die er auch gegen die Kinder
durchsetzt, wenn ihm das aus seinen subjektven Gründen wichtig und unverzichtbar ist.
Oder die er verschiebt.

Der „neue“ Erwachsene ist unendlich befreit: nichts muss er und „objektiv nötig“ und
„pädagogisch unabdingbar“ tun! Er entscheidet souverän, was zu tun ist, aus seiner
Erfahrung heraus, seinem Wissen folgend oder intuitiv, situativ, fehleroffen, gestresst
oder entspannt, sich selbst spürend, seinem Engagement und seiner Liebe zu den Kindern
nachgebend. Er muss nicht dieses oder jenes tun - er kann dieses oder jenes tun! Und er
tut es, er handelt, er verweigert sich nicht, er ist klar erkennbar, ist Position und Orien-
tierung: „Seht, hier bin ich und das tue ich“ und „Das sind meine Werte und Grenzen,
meine Gefühle und Absichten.“ Er legt sich offen, er ist offen. Er ist in lebendiger
Kommunikation mit den Kindern. Die Zeit, die er mit den Kindern verbringt, ist auch
seine eigene Lebenszeit, die ihm und niemandem sonst gehört, auch nicht den Kindern,
auch nicht ihren Bildungsprozessen. „Wer bin ich?“ und „Was will ich wirklich?“ ist der
Boden, auf dem er steht, und von dieser existentiellen Position aus macht er sich auf zu
den Menschen vor ihm, um Jahre jünger, aber von gleicher Art. Beide gehören sich selbst
und begegnen sich.

Wie gelingt eine solche Kommunikation auf gleicher Augenhöhe? Wie gelingt eine solche
Beziehung zwischen Männern und Frauen, Weißen und Schwarzen, Christen und
Muslimen? Wie immer, wenn vormals Oben-Unten-Positionen übenwunden werden und
das Paradigma der Gleichwertigkeit die Kommunikation bestimmt. Erwachsene lernen
traditionell, über Kindern zu stehen, recht zu haben, sie zu erziehen. Doch vor dem
Erwachsenwerden konnte jeder Erwachsene die Gleichwertigkeit realisieren - in der
eigenen Kindheit, von Kind zu Kind. Wir alle tragen tief in uns diese ursprüngliche Art
des Umgangs mit Kindern, hunderttausende, Millionen von Jahren überliefert. Und wer
sich nicht verdrehen, verschieben, verbilden lässt durch ein traditionelles aus dem
Maschinenzeitalter kommendes pädagogisches „Expertentum“, der bleibt sein Leben
lang bei diesem intuitiven Wissen.

Oder er erobert es sich zurück. Hier sind Seminare und Schulungen für Tagesmütter und
Tagesväter in den Blick zu nehmen: Wie kann ich mich vom traditionellen Oben-Unten-
Denken den Kindern gegenüber, vom Adultismus emanzipieren? Wie finde ich meine
authentische Kommunikation zu den Kindern wieder? Wie kann ich sie ausbauen? Sich
selbst kennen lernen und zu sich stehen, als Person reifen. Hier beginnt die neue
Professionalität. Vielfaltigste Details müssen von hier aus abgeleitet und gefunden
werden. Eine große Herausforderung.



Montag, 5. Dezember 2016

Kuhfladen und Sommerwolken


Die Schaukel ist beschmiert. Mit Matsch und Lehm. Linus und Friedrich, beide 6, haben sich darüber hergemacht. Die anderen Kinder sind nicht begeistert. Ich auch nicht.

Wir sind auf dem Sommer-Camp. Wieso hat das keiner verhindert? Einige Erwachsene haben das doch gesehen! Wir besprechen abends die Szene – und dann werde ich nachdenklich.

Es gibt bei so etwas wie der beschmierten Schaukel zu wenig Raum für freundliche Reaktionen, nachsichtiges Begleiten, humorvolles Lächeln. Es gibt diesen Raum schon in uns, aber seine Tür ist sehr verborgen. Das Offensichtliche drängt sich vor und ist sofort da: „Was soll das ?“ „So ein Unsinn!“ Ablehnung Abstufung, Korrektur. Mit zugehörigem Druck: falsch, schlecht, unmöglich.

Wenn die Kinder den Tag unterwegs sind, hinterlassen sie immer ihre Spuren. Chaotische Zimmer, klatschnasse Pullover, saudreckige Stiefel. Aber es sind Zimmer! Pullover! Stiefel! „Chaotisch“, „klatschnass“, „saudreckig“ sind die Blicke aus dem Ablehnungsraum. Schnell zur Hand, aber eben nicht die einzige Sicht der Dinge. Das Zimmer, der Pullover, die Stiefel: sie erzählen so viel. Von der Energie, Freude, dem Weg und dem Leben der Kinder. Warum sehe ich das nicht?

Ich sehe es ja. Jetzt, beim Nachdenken. Im Alltagsbetrieb sehen wir das weniger. Fixiert, gebannt, festgenagelt auf das Szenario „Unangenehm“. Dies ist in uns gefahren, über uns gekommen, gelernt: als wir Kinder waren und die Reaktionen und Kommentare der Großen erlebten, zu unserem Gang durch den Tag. Wir machen das jetzt nach, als Große. Nur: dass es nicht gut tut. Mir nicht und den Kindern nicht. Und: dass ich das bemerken kann. Und: diesen Raum verlassen kann.

Die rote Ampel. Die vergessene Bescheinigung. Das Brot ausverkauft. Endlos. Ärger anziehend wie Kuhfladen die Fliegen. Automatisch. Und genau da denke ich jetzt dazwischen: Ich muss diesen Automatismus ins Unangenehme nicht in mir stattfinden lassen. Kann ich – muss ich aber nicht. Ich bin der Chef – wie immer. Ja: rot, vergessen, ausverkauft. Was ist dabei? Pause, nochmal von vorn, Haferflocken. Ich muss mich doch nicht aus meiner Freude drängen lassen.

Matsch auf der Schaukel? Meine Güte – Problem? Wasser, Eimer, Bürste, eine kleine ungeplante Unterbrechung der Alltagskramerei. Eine geschenkte Zeit. Zum Nachsinnen, Haltmachen, Sonne und Sommerwolken genießen. Und vielleicht helfen die Kinder ja. Wir sind so ungewohnt, positiv zu reagieren. Generell! In die Freude zu gehen. In der Freude zu bleiben. Die Freude auszukosten. Wir mögen dies nicht und tun es als Schönreden ab. Das Abtun ist ja nicht verboten. Nur: schmeckt das?

Nein, es schmeckt nicht! Warum sollte ich ekliges Zeug essen? Warum eigentlich interpretieren wir so eklig? Sind wir eklig geworden? Die Blicke von Linus und Friedrich nach meinem Blick waren eindeutig. Ich war angematscht wie die Schaukel. Jetzt nehme ich meine Zauberei und der dreckige Ekel verschwindet. Heile Welt lässt sich immer hervorholen. Generell! Fragt sich, ob man das sieht und den Mut dazu hat. Denn so etwas ist mit Bann belegt. Bann aus der Kindheit, aus dem Modus des Schlechtredens und Schimpfens. Das lasse ich hinter mir, jetzt, beim Besprechen mit den anderen. Halte ihrer Verblüffung stand und empfehle mehr davon. Mehr von dieser Heilen Welt. Mehr Sonne und Sommerwolken.

Samstag, 3. Dezember 2016

Verheiraten


Als ich Lehrer in der Schule war, geschah es einmal, dass die Kinder zu mir als Person durchdrangen, dass der Lehrer aus der Klasse verschwand und ich verzaubert, ent-erwachsent wurde. Sie wollten "Verheiraten" spielen und sie vertrauten mir, in meiner Gegenwart so sein zu können. Einer war Pastor, zwei andere Trauzeugen, und die Pärchen meldeten sich. Sie wurden an die Tafel geschrieben. Es war eine Zeremonie, mit viel Lachen, Spaß und Beifall. Ich war eingeladen, ihnen zuzusehen, ich war ihr Gast. Es war, als ob ich am Fest eines fremden Volkes teilnehmen konnte. Sie hatten mich in ihren Kreis aufgenommen, ich störte sie nicht. Ich spürte die Mischung von Spaß und Ernst, von Spiel und Leben, und ich merkte, wie befreiend es ist, wenn man auf dieser von damals so wohlbekannten Basis miteinander umgeht.





Donnerstag, 1. Dezember 2016

So nah - so fern


Fortsetzung vom 29.11.

Die dreijährige Anne und ihr Vater Martin kommen im Winter zum Spielplatz. Anne will rutschen und klettert die Leiter hoch. Aber es liegt Schneematsch auf der Rutsche, und Martin sagt, dass sie nicht rutschen soll. Weil sie eine nasse Hose bekommt und sich erkälten kann. Anne will trotzdem rutschen. Martin steigt rasch die Leiter hoch und holt Anne nach unten.

Kurz darauf kommen die dreijährige Karin und ihr Vater Klaus zum Spielplatz. Karin will ruschen und klettert die Leiter hoch. Aber es liegt Schneematsch auf der Rutsche, und Klaus sagt, dass sie nicht rutschen soll. Weil sie eine nasse Hose bekommt und sich erkälten kann. Anne will trotzdem rutschen. Klaus steigt rasch die Leiter hoch und holt Karin nach unten.

Beide Väter lieben ihre Kinder. Beide Väter tun dasselbe. Und dennoch gibt es einen großen und hochwirksamen Unterschied. Diesen kann man nicht so ohne weiteres erkennen, er will erfühlt werden. Aber man kann ihn erklären. Ohne dass ein Vorwurf daraus entsteht - aber sehr wohl das Aufzeigen eines anderen Wegs.

Beide Kinder erleben, dass sie nicht tun können, was sie wollen. Was sie als das Beste für sich erkannt haben. Nämlich zu rutschen, auch wenn auf der Rutsche Schneematsch liegt und der Vater das nicht will. Beide Kinder sind Schneematsch-Rutsche-Kinder. Beide Kinder können nicht tun, was sie für richtig halten. Beide erleben den Vater als Verhinderer, als Stein in ihrem Weg.

Annes Vater ist in der amicativen Welt zu Hause. Klaus ist in der traditionellen, der pädagogisch orientierten Welt zu Hause. Im Unterschied zu Martin trägt Klaus die Verantwortung für sein Kind. Für die Beziehung von Klaus und Karin gilt, dass der Vater im Herausfinden und Bewerten des Richtigen dem Kind übergeordnet ist. Es gilt: Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist.

Klaus liebt seine Tochter, und er ist in Sorge um sie. Die amicative Sicht auf Klaus ist ohne Vorwurf, seine Liebe und Sorge werden gesehen. Dennoch aber wird etwas Ungutes erkannt, etwas, das sich vermeiden läßt, wenn man amicativen Boden betritt. Dies geht so:

Aus amicativer Sicht erlebt Karin die Haltung ihres Vaters - ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist - als Grenzüberschreitung, schärfer ausgedrückt: als einen psychischen Angriff auf ihre Bewertung. Sie erlebt, dass sie nicht ein Schneematsch-Rutsche-Kind sein darf, dass ihr Wille nicht richtig sein, dass ihre Weltdeutung falsch sein soll. Die Anspruchshaltung ihres Vaters erreicht Karin im Tonfall der Stimme, in der Art, wie er die Leiter hochkommt, wie er sie anfasst, wie sein Gesicht aussieht, auf den psychischen Kommunikationskanälen. Karin setzt sich innerlich dagegen zur Wehr, dass sie nicht das Kind sein darf, das sie sein will. Sie ist verstrickt in psychischen Übergriff und Abwehr. Sie fühlt, dass ihre Position weniger wert sein soll. Insgesamt: sie fühlt sich demoralisiert.  Zur Verhinderung im Außenbereich - sie kann nicht tun, was sie will - kommt die Grenzüberschreitung im Innenbereich, der psychische Angriff durch die pädagogische Anspruchshaltung.

Anne erlebt dies nicht, weil Martin keine pädagogische, sondern eine amicative Haltung hat. Nach amicativer Auffassung gibt es auf der Innenseite der Beziehung kein objektiv besseres Wissen eines Erwachsenen darüber, was gut für ein Kind ist. Annes Vater interveniert aus seinen subjektiven Gründen, die er nicht als objektiv wertvoller einstuft als die Gründe des Kindes. Es gilt: Jeder spürt selbst am besten, was für ihn gut ist.

Einerseits sind beide Väter gleich: Beide sind in Sorge, dass ihre Kinder sich erkälten können. Und deswegen greifen sie ein. Doch während Klaus meint, dass er objektiv Recht hat (und nicht ahnt, welche ungute Wirkung das auf Karin ausübt), interveniert Martin ohne den Anspruch, dass dies zum objektiv Besten des Kindes geschieht, besser als es das selbst wahrnimrnt.

Dies erspart Arme die Demoralisierung, die Karin erlebt. Anne bekommt mit, dass Martin ihre Bewertung nicht ändern will. Dass er zwar anders bewertet und dies auch mitteilt und sich wünscht, dass sie seiner Bewertung folgt. Dass er ihr aber ihre abweichende Bewertung wirklich lassen kann. Sie erlebt sich auf der psychischen Ebene als gleichwertig. Ihr inneres Königtum wird nicht angetastet. Der Vater geht entschlossen gegen sie vor im Außenbereich, er holt sie ohne Wenn und Aber von der Leiter. Und zwar aufgrund seiner eigenen Interessen (Angst und Sorge verringern). Doch im Innenbereich schwingt die Achtung gegenüber ihrer Fähigkeit mit, das eigene Beste selbst spüren zu können. So, wie Anne es sieht. Nur, dass er dies aus seinen Gründen jetzt nicht Wirklichkeit werden lassen kann.

Die äußere, physikalische Aktion ist dieselbe - die innere, psychische Dimension ist grund-verschieden. Dadurch ist die erlebte Realität gänzlich anders. Väter und Töchter verlassen den Spielplatz, und was so zum Verwechseln ähnlich aussieht, ist doch so verschieden. Zwei Kinder können nicht tun, was sie wollen. Aber das eine wird - trotz väterlicher Liebe und Sorge - zusätzlich belastet mit einer seelischen Grenzüberschreitung, einem psychischem Angriff und Demoralisierung, das andere erlebt sich trotz der Verhinderung seines Wunsches als geachtet und anerkannt.