Donnerstag, 23. März 2017

»Was will ich wirklich?«


»Was will ich wirklich?« ist die Frage, die den Weg zur amicativen Praxis zeigt. »Was will ich wirklich?« leitet jemanden, der sich selbstverantwortlich fühlt. So zu denken bedeutet keine lange innere Diskussion, sondern ist ein selbstverständlicher Reflex, gelegentlich ein kürzeres Innehalten, wenn etwas unklar ist. Die jeweilige Entscheidung orientiert sich am Insgesamt aller Faktoren: Erfahrung, Wissen, Gefühle (Ängste, Mut, Zögerlichkeit, Hoffnung, Freude usw.), Situation, körperliche Verfassung, Perspektiven, Finanzen, Zeit, Risiken, Gewinn ... was immer eine Rolle spielen mag. Amicative Entscheidungen beziehen sich auf das, was das Insgesamt nahe legt. Es geht nicht um die vordergründig annehmlichste Lösung. Den Arbeitsplatz zu verlieren, weil das schöne Wetter zu ungenehmigtem Urlaub lockt: Ist dies wirklich von Vorteil? Wohl kaum. Wenn es aber tatsächlich wichtig ist, genau dies zu tun, dann wird es getan. 

Korrekturen an der Gesamteinschätzung sind jederzeit möglich. Dann will man etwas anderes als eben noch. Dabei war das Eben nicht falsch. Eben war die Einschätzung so, jetzt ist sie anders. Die Vergangenheit wird nicht herabgesetzt. Was jemand tut, ist vor ihm verantwortet, es entspricht seiner Bewertung und Moral und ist eine subjektive Entscheidung, die sich nicht zu recht von außen messen lässt. Bei aller Korrektur: niemand hat einen wirklichen Fehler gemacht. Denn der Gedanke, etwas könne falsch sein, misst den, der aber so entscheidet, von außen und setzt ihn und seine Entscheidung herab. Wer eine Entscheidung trifft, tut dies, weil es seiner Sicht der Dinge entspricht – und (dieser) seiner Sicht gebührt Achtung, denn sie ist ein Teil von ihm. 

»Was will ich wirklich?« ist nicht die Frage nach den Fantasien und Träumen (zu ihnen führen andere Fragen), sondern nach der Wirklichkeit, in der ein jeder lebt: in Abwägung der Vorstellungen und Wünsche mit den vorhandenen Möglichkeiten hier und heute. Es ist ein Realismus, der nicht nach Verrat der Träume schmeckt, sondern es entsteht ein konstruktiver Umgang mit den Realitäten, so dass man mit sich und der Welt in Übereinstimmung leben kann. 

Die Kinder kennen lange Zeit den Weg zur Kongruenz, denn sie sind einerseits sehr realistisch und andererseits sehr nah bei ihren Träumen, und wenn sie amicativ aufwachsen, gelingt es ihnen, die Balance zu halten. Zum Beispiel: Wer nicht zur Schule geht, wird letztlich mit Polizeigewalt hingeschafft und ist ein buntes Huhn unter seinen Spielkameraden. Welches Kind wird sich das zumuten? Amicativ aufwachsende Kinder sind Realisten. Aber Realisten, die stets Ausschau danach halten, wie sich ihre Wünsche verwirklichen lassen. Sie sind nicht demoralisiert angepasst, sondern ihre Anpassung ist konstruktiv und kommt aus dem Gespür für die Grenzen ihrer eigenen Macht. Diese Grenzen sind flexibel, und was jetzt nicht geht, ist vielleicht gleich möglich. Aber wenn etwas jetzt nicht geht, dann geht es eben jetzt nicht, und darauf stellen sich die Kinder ein.