Mittwoch, 12. April 2017

Amication missverstehen


Ein charakteristisches Merkmal amicativer Lebensweise besteht darin, dass Schuld-
zuweisungen und moralisierende Vorwürfe nicht vorkommen. Denn wie kann einer dem anderen die Schuld geben, wenn jeder nur für sich spricht und wenn jeder stets sein Bestes tut? Beziehungen, die frei sind von den Tönen des »Ich habe mehr recht als du« sind im Vergleich zu den Beziehungen, die mit solchen Tönen einhergehen, entspannter und stressfreier. Diese besondere, vom Moralisieren befreite Atmosphäre ist bei amicativen Menschen wahrzunehmen.

Soweit die Theorie. In der Praxis gibt es von dieser amicativen Umgangsform Abweichungen. Aber Achtung: Jede Abweichung, die passiert, kann pädagogisch sein, muss es aber nicht, sondern kann – trotz Abweichung – immer noch amicative Substanz haben.

Wenn Moralisieren auftaucht, dann kann eine innere Zustimmung zum Moralisieren dabei sein. Nach dem Motto: »Ich bin mein eigener Chef und ich kann alles tun, was ich will, nichts ist richtig, nichts ist falsch.« Wer so hinter seinem Moralisieren steht, kann den Kontakt zu den befreienden Aussagen von Amication verloren haben. Der eigentlich kraftvolle und konstruktive psychische Rundumschlag »Endlich kann ich alles tun, was ich will, denn ich bin o.k.« kann sehr missverstanden werden.

Wenn man auf amicativem Boden stehen und amicative Aussagen nicht für eigene Zwecke umdeuten will, dann kann man schon alles tun, was man will – jedoch nur im Geist von Amication. Die Befreiung von alten Zwängen geschieht nicht in den luftleeren Raum hinein, sondern in die Richtung, die Amication aufweist. Es wird immer wieder missverstanden, dass Amication dazu legitimiere, nun endlich alles tun zu können, was man will – ohne Bezug zur Gesamtidee. Viele Zeitgenossen nehmen Amication für einen Ausstieg aus ihren Zwängen, nicht jedoch für einen Umstieg in die amicative Lebensart.

Aussteiger finden nichts dabei, wenn sie moralisieren. »Kann ich ja tun«. Und sie sind damit im Grunde noch in der alten Welt. Umsteiger finden schon etwas dabei, wenn sie moralisieren: sie haben ein Gefühl das Bedauerns. Keine neuen Selbstzweifel, kein erschrecktes Selbstermahnen. Einfach Bedauern. Mit dem Impuls, sich durch das Moralisieren nicht irre machen zu lassen auf dem Weg, das Moralisieren vielleicht doch eines Tages verlassen zu können.

Dieser Impuls geht nicht in Richtung Selbsterziehung (ich muss an mir arbeiten, damit ich mit Moralisieren aufhöre.). Es ist der Kontakt zu der Gesamtphilosophie, eine Ehrlichkeit sich selbst gegenüber: Dass mir etwas unterläuft, was ich eigentlich nicht gut finde, was ich an mir aber nicht wegerziehen muss, was damit aber auch nicht willkommen geheißen wird. Es ist ein feines amicatives Gefühl: Etwas an sich bedauern zu können, ohne sich deswegen weniger zu mögen. »Auch mein Moralisieren gehört zu mir. Aber die Überzeugung, dass es ohne Moralisieren schöner ist und der Wunsch danach, ist ebenfalls ein Teil von mir.«

Man kann in seiner Praxis also überhaupt nicht amicativ sein, obwohl es so aussieht. Zum anderen kann die eigene Praxis überhaupt nicht amicativ aussehen, obwohl man amicativ ist. Das Bekenntnis zur Amication ist wenig. Es kommt darauf an, in Kontakt zu ihrem Sinn zu sein, auch, wenn man etwas (immer noch, immer wieder) tut, das pädagogisch aussieht. Dann ist auch Moralisieren kein wirkliches Problem.