Montag, 29. Mai 2017

Kinderland: Schuhe, Beulen und der See









 









 Aus meiner Kinderforschung.

"Theo (15), mach Dir doch die Schuhe sauber, ehe Du
reinkommst. Es gibt hier keinen Staubsauger." Wir sind im
Ferienhaus. Ich bin ärgerlich, dass die Kinder nicht aufpas-
sen. Diesmal werden die Schuhe sauber, aber beim nächsten
Mal sind sie wieder dreckig. Da denke ich nach: Würde ich
die Erwachsenen, die nächste Woche mit mir hier sein wer-
den, auch dauernd so anmachen? Ich würde einmal eine
spaßhafte Bemerkung machen, damit sie Bescheid wissen.
Und es dann ihnen überlassen, wie sie es machen. Aber Theo
gegenüber dränge ich dauernd darauf, dass er seine Schuhe
sauber macht. Ich erwische mich beim Herrschen und lasse
ihn dann in Ruhe. Ich bekomme es hin, ihn mehr zu mögen
als saubere Schuhe. Es ist schwer - aber ich mag mich, dass
ich mich da so anstrenge.

*

Arnd (14) und Theo (15) rollen das Auto, als ich gerade nicht
da bin. Dabei ist die rechte Tür offen, sie stößt vor einen
Balken und verzieht sich. "Die Tür geht nicht mehr zu." Ich
kann nicht gelassen reagieren, ich bin sauer. Aber sie sind so
verdattert, dass ich schnell wieder zu dem komme, wie ich
sonst bin. Ich denke an die Beulen auf dem Dach und daran,
dass ich Freunden dazu gesagt habe "Souvenirs von den
Kindern". Genauso ist es doch mit der Tür! Oder mit ihren
Schreibereien und Bildern innen unter dem Autodach. Ich
gehe ins Jugendzentrum und hole ein Brecheisen. Ich biege
die Tür zurecht, sie geht wieder zu, sieht aber etwas mitge-
nommen aus. "Ist es schlimm?" fragen sie. "Die Tür geht
doch zu", sage ich.

*

Arnd (14) und Netty (14) sind beim Rudern auf dem See ins
Wasser gefallen. Es war sehr lustig. Aber "wenn meine Eltern
merken, dass ich ins Wasser gefallen bin, kriege ich Ärger".
Ich manage: "Los, es ist vier Uhr. Wir fahren zu mir, ich
bringe Eure Sachen in die Schnellreinigung. Das könnte bis
sechs fertig werden." War es dann auch. Und das Wasser-
erlebnis blieb schön bis zum Schluss.

Samstag, 27. Mai 2017

Tränen


















Aus meiner Schatzkiste, Nachdenken und Erleben.

*

Wir sind es gewohnt, große emotionale Geschehnisse bei
den anderen nicht mit Ruhe ansehen zu können. Wenn
der andere sehr heftig reagiert, eilen wir herbei, um ihn zu
beruhigen, etwa wenn er weint. Oder wir beginnen ihn zu
trösten oder von den Dingen zu reden, die Tränen eigent-
lich nicht nötig sein lassen.

In Wirklichkeit geschieht dann, dass wir uns selbst be-
schwichtigen und trösten. Dieses Beschwichtigungs- und
Trostverhalten haben wir der Erwachsenenwelt abgese-
hen, als wir Kinder waren. Wenn wir als junge Menschen
weinten, stürzten die anderen herbei und nahmen sich
unseres Schmerzes an. Was aber bedeutet: Sie nahmen
uns die Oberhoheit über unseren Schmerz. Anscheinend
konnten sie nicht ertragen, dass unsere Tränen flossen,
und sie mussten etwas dagegen unternehmen. Unsere
Tränen gehörten nicht uns. Sie waren etwas Beängstigen-
des für die anderen. Und wenn wir verzweifelt waren,
wurde alles mögliche in Szene gesetzt, damit wir wieder
froh wurden. Unsere Verzweiflung wurde nicht als Reali-
tät akzeptiert, sondern sie wurde wie ein Schmutzfleck
weggeputzt.

Wer seine Selbstliebe wiederfindet, der weiß um den Wert
der Tränen und Verzweiflung von damals. Sie waren offe-
ne Tore zu uns, Rufe, uns selbst, so wie wir wirklich
waren, zu erkennen. Sie waren keine Aufforderung, her-
beizustürzen und von unserer Wirklichkeit, die sich
energievoll Bahn brach, wieder abzulenken. Doch im
Ablenken waren die Erwachsenen geübt, denn sie kann-
ten dies ja aus ihrer eigenen Kindheit: lamentieren, ag-
gressiv reagieren, gutgemeintes »armes Kind«, listige
Beruhigungsmanöver, »ist doch nicht so schlimm«.

Es ging darum, ihre Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.
Unsere Tränen waren letzte Versuche, in das Chaos der
Erwachsenenwelt die Wahrheit und Weisheit unserer
Ordnung zu tragen, die von der Einmaligkeit und Würde
der Person kündet.

Wenn jemand - sei es ein junger oder erwachsener Mensch
- in meiner Gegenwart weint, bin ich nicht mehr aufge-
schreckt in hilfloser Dramatik. Ich kann mit Ruhe, Kon-
zentration, Wärme, ohne Worte, still und energievoll ein-
fach da sein. "Ich bin da. Ich stehe auf Deiner Seite. Ich
mag mich - selbst. Ich mag auch Dich. Ich habe Kraft, Dir
zuzuhören. Deine Tränen verletzen und beunruhigen mich
nicht. Ich kann sie Dir lassen. Nichts muss zerstört wer-
den. Ich höre Dich aus der Tiefe in mir. Ich bin Dir nah"

Diese Reaktion auf die großen Emotionen der anderen
sind geöffnete Tore auch bei uns: auch wir können uns
selbst begegnen. Die Nähe des Weinenden zu sich und
die Nähe des Zuhörenden zu sich sind für beide hilfreich:
Sie spüren, dass sie jetzt einander sehr nah sind, dass ihr
jeweiliges Selbst viel intensiver in Erscheinung tritt als
sonst, und von dieser intensiven Basis sehen sie einander
und stellen sie energievollen Kontakt her.

*

Andi (7) weint. Wir sind in einem Zeltlager, ich bin zu
Besuch. Ich kenne sie erst ein paar Stunden. Die anderen
sind gerade nicht da. Ich knie mich vor sie hin, sie steht drei
Schritte weg. Sie hält die Arme vors Gesicht, sieht ab und zu
her und weint. lch bin ganz konzentriert und rnache mich
auf. Ich höre ihr zu und ich habe Raum in mir für ihre Tränen.

Ich sage mit meinen Augen: "Hallo Andi, ich höre Dir zu
und habe Platz für Deine Tränen. Du kannst mir Dein Leid
erzählen." Sie kommt langsam auf mich zu, bleibt stehen,
sieht her und weint weiter. "Du kannst kommen und Dich in
den Arm nehmen lassen. Du kannst aber auch dort bleiben
und mich zuhören lassen", sage ich ihr mit meinen Augen
und mit meinen Gefühlen aus dem Bauch.

Ich beginne, mich weiter zu ihr fallen zu lassen, sie beginnt,
weiter auf mich zuzugehen. Plötzlich kommt ihre Gruppen-
leiterin - Glas zerbricht, eine Kreissäge kreischt, Singvögel
fallen zu Boden."Wer wird denn weinen", sie nimmt Andis
Hand und zieht sie ins Zelt. Ich bleibe voll Schmerz zurück,
bin ohne Vorwurf. Voll Schmerz über diesen Erwachsenen.







Donnerstag, 25. Mai 2017

Psychosoziale Macht


















Die Erkenntnis, dass die Verantwortung für das, was sich
psychisch in einem Menschen ereignet, bei diesem selbst
liegt, bedeutet neben vielem anderen auch, dass niemand
wirklich psychisch gezwungen werden kann, zu nichts. Wie
man die Welt und ihre Erscheinungen deutet, bewertet und
gewichtet, ist einzig die Sache des einzelnen. Ob ein Frei-
heitskämpfer dem Exekutionskommando entgegenruft "Es
lebe die Revolution!" oder ob er apathisch und demoralisiert
auf das Ende wartet - das ist seine Sache, seine Verantwor-
tung für sich.

Eine Kultur, die Herrschaft zur Grundlage hat, muss den
Menschen diese gesellschaftlich hochwirksame Potenz neh-
men. Denn nur der ist beherrschbar, der dem Beherrscht-
werden auch zustimmt, der sich auch unterwerfen will. Es
gibt immer gute Gründe, lieber seinen Nacken zu beugen als
sich den Kopf abschlagen zu lassen - aber ein jeder hat
tatsächlich die Wahl zu leben oder zu sterben, jeden Augen-
blick. Es ist immer die Frage, wo man für sich den größeren
Vorteil erkennt. Hierüber trifft man selbst die Entscheidung,
niemand sonst.

Es ist leicht, Menschen zu beherrschen, die das Gefühl für
ihre Selbstverantwortung verloren haben, die daran gewöhnt
sind, andere für ihr Schicksal verantwortlich zu machen: die
Eltern, die Gesellschaft, die Verhältnisse. Das Wiederfınden
der Selbstverantwortung bedeutet im gesellschaftlichen Bereich
das Wiederfinden der psychosozialen Macht des einzelnen. Es
ist dies eine Macht, die durch nichts wirklich ausgehebelt werden
kann und die jedem, der herrschen will, seine Grenze zeigt.

Dienstag, 23. Mai 2017

Zuviel


















Aus meiner Schatzkiste.
Alltag mit Kindern: Wenn es mir zuviel wird.

*

"Was soll ich machen, wenn es mir zuviel wird, freundlich zu
den Kindern zu sein?" Je mehr man sich vornimmt, desto
höher wird oft der Anspruch an sich selbst, nun tatsächlich
freundlich und achtungsvoll zu sein. Und dann kommt der
Punkt, an dem man sich überfordert fühlt. "Eigentlich müsste
ich mehr Zeit und Ruhe haben. Ich will mein Kind doch
nicht vernachlässigen." Aber das Kind geht einem jetzt gera-
de so sehr auf die Nerven, dass man einfach nicht die Kraft
hat, sich seiner Wünsche anzunehmen. "]etzt nicht!"- "Lass
mich in Ruhe!" Und dann geht man fort und nimmt ein
schlechtes Gewissen rnit.

In der Amication kommt man ohne schlechtes Gewissen
zurecht. Ja - ich gehe weg von diesem nach mir rufenden
Kind und kümmere mich jetzt nicht um seine Wünsche. Es
geht nicht darum, über die eigenen Kräfte hinaus für andere
da zu sein - auch nicht für Kinder. Wenn Erwachsene die
Kinder in ihren Bedürfnissen und Wünschen ernst nehmen
und achten wollen, dann geht das wirklich nur, wenn sie sich
selbst in ihren Bedürfnissen und Wünschen auch ernst neh-
men. Und das heißt hier: Was ich tue - den Wünschen der
Kinder jetzt nicht nachzugeben -, ist vor mir verantwortet und
ich brauche deswegen kein schlechtes Gewissen zu bekom-
men.

Einmal ganz abgesehen davon, dass Kinder ein ehrliches
jetzt nicht oft viel leichter vertragen können als die aufrei-
bende "Nimm doch Rücksicht"-Forderung von Erwachsenen,
die ihre Wünsche denen der Kinder nicht offen gegenüber-
stellen.

Wenn es einer Mutter oder einem Vater zuviel wird, sich um
ihr Kind zu kümmern, dann haben sie das Recht, sich um
sich selbst zu kümmern. Eigentlich könnte man sogar sagen,
dass dann die Pflicht besteht, sich um sich selbst zu küm-
mern. Zu entspannen, eigene Dinge zu verfolgen - denn
dann können Energie, Kraft und Gelassenheit auch wieder
zurückkommen. Wenn Kinder anstrengend sind, ist es wich-
tig, irgendwo aufzutanken. Und dies wird oft nur so gehen,
dass die Kinder nicht mit dabei sind. Es wird vielleicht schwer
zu machen sein - aber es kann dabei überhaupt kein schlech-
tes Gewissen geben.

Wer den Kindern zuliebe auf sich verzichtet - obwohl er
eigentlich gar nicht verzichten will -, der tut weder den
Kindern noch sich selbst einen Gefallen. Er tut eigentlich
etwas, das sowohl den Kindern als auch dem Erwachsenen
selbst Schaden zufügt. Es ist in der Amication gerade umge-
kehrt, wie es so oft zu hören ist: Dass man sich für die Kinder
aufopfern sollte. Wer dies aus echter Überzeugung tut, für
den entsteht kein Problem, und der mag dies auch tun. Wer
sich aber nach dieser "Grundregel" richtet, obwohl es in ihm
rumort und er sich eigentlich gar nicht aufopfern will, der ist
schlimm dran. Es käme darauf an, ihm zu helfen, von so
einer wirklichkeitsfremden Position herunterzukommen.

"Kaufst Du mir noch ein Eis?" -"Liest Du mir noch eine
Geschichte vor?"- "Spielst Du mit mir?" - "Wann gehen wir
denn endlich zum Einkaufen?"

Wenn es Eltern zuviel wird und sie an sich selbst denken,
bedeutet das, dass man das Kind (jetzt) zurückweist und sich
seiner (jetzt) erwehrt. Man wird den Kindern dann oft nicht
vermitteln können, dass man sie nicht ablehnt. Denn man tut
ja nicht, was sie von einem wollen, und das kann sie schon
sehr wütend machen. "Du bist richtig gemein." Doch wenn
sie ärgerlich werden, hat das denselben Stellenwert wie die
Rückzugsgefühle der Erwachsenen. Aber niemand sollte sich
wegen des - berechtigten - Ärgers der Kinder davon abbrin-
gen lassen, sich um sich selbst zu kümmern, wenn dies
ansteht.



Montag, 22. Mai 2017

(Un)Ordnung


















Aus meiner Schatzkiste.
Alltag mit Kindern: Die Ordnungsfrage.

*

Es ist klar, dass jeder die Ordnung macht oder eben nicht
macht, bei der er sich wohl fühlt. Und es ist auch klar, dass es
hierbei die verschiedensten Vorstellungen gibt, besonders
zwischen Erwachsenen und Kindern.

Was soll man machen, wenn die Kinder nicht eigene Zimmer
haben? Wo sie die (Un) Ordnung machen können, die sie
wollen? Wenn also zwei Lebensarten kollidieren? Wenn die
Kinder sich in den Räumen der Erwachsenen aufhalten und
wie einen Kometenschweif ihre (Un)Ordnung hinter sich
herziehen? Oder wenn die Kinder in ihren eigenen Zimmern
ein unerträgliches Chaos anrichten?

Wenn man dann den Kindern sagt, wie man es gern hätte -
na gut. Wenn es nur eine Information ist. Aber was solls? Die
Vorstellungen der Eltern von Ordnung - von der Erwachse-
nen-Ordnung - kennen die Kinder längst. Das nochmal
auszusprechen ist doch meist nur der Beginn, Druck auszu-
üben, damit die Kinder tun, was man will. Wenn es nicht das
notwendige Signal ist, eine Vereinbarung zum Aufräumen
anzumahnen, der die Kinder dann auch zustimmend nach-
kommen.

Auch amicative Eltern können in der (Un)Ordnung ihrer
Kinder eine Grenzüberschreitung erleben, die sie nicht hin-
nehmen wollen. Die Macht, die sie dann zur Durchsetzung
ihrer Ordnung ausüben, erfolgt ohne Demütigung und
Herabsetzung der Kinder. Denn die Kinder müssen nicht
einsehen, dass der Erwachsene recht hat. Er besteht auf
seiner Ordnung nicht deswegen, weil er wertvoller als das
Kind ist, über ihm steht und recht hat, sondern weil er in
Not ist und seine Grenze verteidigt.

*

Aber es gibt für für die Eltern auch noch eine andere
Möglichkeit: Man kann selbst die Ordnung herstellen, die
einem wichtig ist - ohne sich dann herabgesetzt und ausge-
nutzt zu fühlen. Weil man weiß, dass die Kinder ihre (Un)Ord-
nung nicht aus irgendwelcher bösen Absicht, Nachlässigkeit
oder sonst einer Unart machen, sondern weil sie als souverä-
ne und selbstverantwortliche Menschen ihren eigenen Weg
gehen - auch in der Ordnungsfrage. Und dem begegnet man
mit Respekt und ohne Ärger. Man sorgt dann dafür, dass die
eigene Ordnung entweder nicht gestört wird (indem man die
Kinder an bestimmte Sachen nicht mehr heranlässt) oder
man lässt die Kinder spielen und räumt dann selbst in seinem
Sinne auf.

Die Gedanken solcher Eltern sind etwa diese:
"Was hat es für einen Sinn, andere meine Ordnung herstellen
zu lassen, außer dem, dass ich diesen Ordnungskrieg gewin-
ne? Die Unordnung der Kinder in meinem Bereich provo-
ziert mich nicht. Ich freue mich doch, dass die Kinder da sind
und dass sie bei mir leben. Und klar - das hat auch Auswir-
kungen, eben Kometenschweife. Einem Hund sehen wir
nach, wenn er Dreck in die Wohnung bringt - aber die
Kinder sollen unsere Ordnung halten? Ich liebe die Kinder
und auch ihre Unordnung, ihre Botschaften, ihre Symbole,
dass sie bei mir leben. Ich habe dadurch am Tag ein paar
Minuten Mehrarbeit, stimmt, ja und? Wieviel Energie und
Zeitverschwendung würde es kosten, einen Ordnungskrieg
zu führen?"

Und konkret: "Ich habe diese ganze Ordnungsproblematik
hinter mir, ausdiskutiert. Ich finde mich zurecht in unseren
verschiedenen Welten. Und ich finde immer wieder etwas,
das mir wirklich hilft: Bei mir gibt es eine Kiste, in die alle
Kindersachen reinkommen, die herumliegen. Mein Aufräu-
men geht mir von der Hand."

Die Eltern räumen dann auf, so wie sie Windeln wechseln,
Brei kochen, Wäsche waschen, Hausaufgaben nachsehen,
die Kinder zum Reit- und Klavierunterricht fahren. In
beiläufiger Freundlichkeit, ohne Anstoß zu nehmen und
ohne sich dabei zu überfordern. Und die Erfahrung solcher
Famılien hat gezeigt, dass die Kinder nach und nach ihre
Zimmer selbst aufräumen wollen - wenn sie nicht bedrängt
werden. Und zwar so, dass auch ihre Eltern mit der dann
erreichten Ordnung zufrieden sind.





Sonntag, 21. Mai 2017

Ich muss gar nichts!


















"Ich muss gar nichts!". Ich bin grad aufgestanden, berappel mich im Badezimmer,
das Fenster ist offen. Mit halbem Ohr höre ich die Nachbarskinder draußen, drei
sinds, 4 bis 6 Jahre. Dann bin ich auf einmal hellwach: "Ich muss gar nichts!" -
klare Botschaft der Fünfjährigen.

Ihre Stimme verlässt ihr Spiel und kommt zu mir. Ja glaub ichs? Wie sehr bei
sich ist denn dieses Kind? Welch abenteuerliches Statement, welch bom-
bastische Würde, welche überzeugte Gewichtigkeit. Ich bin fasziniert und
angerührt. Ich wasche mein Gesicht mit Kaltwasser, bin erfrischt und staune
über die Welt. Diese Kinderwelt. Diesen jungen Menschen.

Und lege etwas nach. Ich muss ja wirklich gar nichts. Wenn man den Sinn
dieses Würdestatements nicht konterkariert. Gleich zum Extrem: Muss ich
sterben? Das passt nicht. Dem Tod kann ich nicht ausweichen, er ist eine
Selbstverständlichkeit, die ohne Müssen daherkommt. "Ich bin", sagt er,
nicht "Du musst". "Ja", werde ich dann sagen und ihm folgen. Nicht weil
ich müsste: Ich muss gar nichts.

Natürlich tue ich immer wieder Dinge, die ich eigentlich nicht tun will.
"Eigentlich". Ich tue sie aber, schon klar: nicht weil ich müsste, sondern
weil ich will, letztlich. Nichts geht ohne mich.

Und wenn mich jemand zwingt? 1001 Beispiele sind sofort da. Trotzdem:
Ich muss nichts, müssen passt hier nicht. Wenn es gegen meinen Willen
geht, dann werde ich halt gezwungen. Aber ich muss das nicht tun, was
da gefordert wird. Es ist beim Gezwungenwerden keine Ich-Aktion,
sondern eine Du-Aktion, Zwing-Aktion. Wie auch immer.

Wenn ich also nicht sterben MUSS, nicht rechts ranfahren MUSS, nicht
Ballwerfen MUSS. Dann fühlt sich das nach herrlichem Frühlingsmorgen
an, Kaltwasserlächeln, Würdekrone. Welch Geschenk heute morgen!

Samstag, 20. Mai 2017

Kindheitsgefühle II




Fortsetzung des Posts vom 19.5.

*

Jeder Erwachsene, der uns damals seinen Willen aufnötigte -
und wohl noch Dankbarkeitdafür erwartete - tat uns weh,
trieb uns in immer neue Schlupfwinkel, zerbrach etwas in
uns. Wir können heute die Wut und den Schmerz von damals
nehmen, um unseren Kindern nicht Gleiches zuzufügen.

Und wir können auf das Kind in uns zugehen, auf die
Hoffnungen, die Sprachlosigkeit, das Leid von damals. Auch
heute kennen unsere Kinder das Leid und die Tränen um
sich selbst und die Missachtungen genau wie wir - schon von
daher sind wir gleich.

Damals, als Kinder, hatten wir recht! Damals verteidigten wir
unsere Menschenwürde! Wenn wir heute das Weinen um uns
selbst befreien können, wenn wir heute die so tief vergrabe-
ne Kindheitswut aufsteigen lassen und wieder spüren kön-
nen, wenn wir uns nicht mehr schämen, die langgestauten
Tränen endlich strömen zu lassen - die Tränen des hilflosen
Kindes, das in jedem von uns noch heute darauf wartet,
anerkannt und ernstgenommen zu werden -,  öffnen wir
uns den Weg, wieder fühlen zu können, wo Recht und Un-
recht ist. Heute können wir nicht nur mit dem Verstand
einsehen, was not tut, sondern wir können dies auch wieder
mit dem Herzen erkennen.

Wir brauchen das Gefühl - machtvolle, tief anrührende
und erlösende Emotionen - um unsere Menschlichkeit von
den Fesseln des althergebrachten Denkens zu befreien.
Feuer wurde sorgfältig eingeschlossen, als wir jung und
hilflos waren. Setzen wir es dennoch frei! Kinder sind voll-
wertige Menschen von Geburt an - sie werden nicht erst
durch die Erziehung zu Menschen.

Wir selbst, Kinder gewesen, wissen und fühlen dies. Wer
kann es wirklich wagen, das zu bestreiten? Heute, als Er-
wachsene, sind wir stark genug, jeden nachdrücklich und
selbstbewusst zurückzuweisen, der einem Kind die Fähigkeit
und das Recht abspricht, über sich selbst zu bestimmen und
für sich selbstverantwortlich zu sein. Wir haben diese con-
ditio humana als Grundlage unserer Existenz selbst erfahren.
Nehmen wir unsere heutige Kraft und Überlegenheit, um
unsere eigenen Kinder zu schützen!



Freitag, 19. Mai 2017

Kindheitsgefühle I


















Aus meiner Schatzkiste, vor etlichen Jahren geschrieben,
zusammen mit Jans.

*

Als wir selbst Kinder waren, haben wir Tag für Tag gelernt,
dass die Erwachsenen im Recht zu sein beanspruchten. Von
Anfang an lebten wir in einer Umgebung, die am Oben-
Unten ausgerichtet war und in der unsere Selbstverantwor-
tung nicht wahrgenommen wurde. Und als Erwachsene wen-
den wir diese tief eingeprägte Strategie im Umgang mit den
eigenen Kindern an, getreu den "Erfolgen", die wir den
damaligen Erwachsenen abgeguckt haben.

Aber wir können uns neu orientieren. Arnication macht be-
wusst, dass es auch ganz andere Erfahrungen aus unserer Kind-
heit gibt. Kíndheitsgefühle, die aus uns selbst kommen, die wir
niemandem abgesehen haben, die ursprünglich zu uns gehö-
ren: Das Gefühl der eigenen Würde, das Gefühl des eigenen
Werts, das Gefühl, über sich selbst bestimmen zu können, das
Gefühl, für sich selbst Verantwortung tragen zu können, das
Gefühl, o.k. zu sein und sich lieben zu können, und viele
andere dieser machtvollen und konstruktiven Gefühle noch.

Diese Lebenswelt musste zwar stets gegen die Erwachsenen
und ihre "Erziehungsnotwendigkeiten" verteidigt werden,
doch zum Glück gab es Erwachsene und Erziehung nicht
rund um die Uhr. Wir hatten unsere gleichaltrigen Freunde,
auch als "Kinder" definierte Menschen. Bei ihnen konnten
wir authentisch sein, wirklich leben, voller Ideen und mit uns
selbst im reinen. Es war ein Raum ohne die Verwirrung und
die Absonderlichkeiten, in die uns die Erwachsenenwelt mit
ihren Werten und Gefühlen verstrickte.

Diese Momente des erwachsenen- und erziehungsfreien
Erlebens mit den Gleichaltrigen gaben uns die Kraft, lange
Zeit Widerstand gegen alle möglichen Erziehungsansprüche
zu leisten. Doch schließich holte uns das demoralisierende
Gift "Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist" nach und
nach ein. Und der Glaube an uns und unsere eigene Kraft,
Würde und Selbstliebe wurde nachhaltig gestört oder gar
zerstört.

Aber wir haben überlebt! Denn der Kern unseres Selbst und
unsere Kindheitsgefühle sind unzerstörbar. Und wir können
uns mit der amicativen Sichtweise wieder so sehen lernen,
wie es unserer eigenen uralten und liebevollen Selbstwahr-
nehmung entspricht.

Fortsetzung folgt.





Mittwoch, 17. Mai 2017

die schule. absurd




an diesem vorfrühlingstag sind die kinder im wald. als teil
der natur, versunken in ihr spiel, handfest glücklich. am
waldrand fallt ihr blick einen moment nach draußen:
hinter der großen eiche, dem letzten schutz, über dem
fluss, dem bürgen des lebens, harrt der kasten aus stein,
das monument ihrer menschwerdung, die schule. absurd,
wirklich und unwirklich zugleich steht sie da drüben, wie
ein alien. »wozu ist das gut?« »wozu könnte das gut sein?«
sie flüstern. dann folgen die kinder wieder ihrem spiel,
das leben heißt, in dieser vertrauten umgebung, der gro-
ßen harmonie, die sie liebt und lehrt, wer sie wirklich sind.


Dienstag, 16. Mai 2017

Kinderland: Schleichwege fahren II


Aus meiner Kinderforschung.


Silvia (11) ist von der Stoßstange gefallen. Ich merke es schnell, weil ich sie
dauernd im Rückspiegel habe. "Was ist passiert?" Sie hält sich ihr Knie. "Ich
habe vergessen, mich festzuhalten" Ich hatte Seile zum Festhalten angebracht.
Die Hose ist kaputt. "Ich kriege Ärger." Ulla (12), ihre Schwester: "Ach, ich
sag Ingrid Bescheid, die näht das zu und sagt nichts weiter."

Sie problematisieren nicht, dass man vielleicht gar nicht hätte auf der Stoß-
stange fahren, dürfen - in mir tauchte diese Angst sofort auf. Für die Kinder
war das nicht das Problem dabei. Wir haben unser Spiel gespielt. Aber es
könnte zu Hause Ärger geben - das ist ein Problem.

Ich fahre dann rasch zu einer Apotheke, um etwas zum Desinfızieren zu holen.
Dann waschen wir das Knie und kleben ein Pflaster drauf. Wir halten zusammen
und erleben Wichtiges.

Montag, 15. Mai 2017

Kinderland: Schleichwege fahren I



Aus meiner Kinderforschung.


Drei Kinder (11-13) stehen hinten auf der Stoßstange des Autos. Ich fahre
langsam, abgelegene Pfade, Feldwege. "Schleichwege fahren" nennen sie das.
"Dürfen wir hinten mitfahren?" Es kam nur auf mein o.k. an. Auf nichts sonst,
sie überlegten nichts weiter. Aber ich: Ist das erlaubt (natürlich nicht), was
sagen die Eltern (nein, zu gefährlich), was kann nicht alles passieren. Wie
kommt es, dass ich ja sage? Da gibt es eine Größe in mir, die sich nicht mit
dem Intellekt erfassen lässt. Es ist ein sicheres Gefühl. Ein gutes Gefühl zu
den Kindern - parallel dazu ein schlechtes Gefühl zu der Erwachsenenwelt.

Ich möchte meinem guten Gefühl nachgeben. Es ist einfach wertvoller, mit
den Kindern zu leben, bei ihnen gute Gefühle zu haben, als die Regeln der
Erwachsenenwelt zu befolgen. Das "Wenn etwas passiert" ist bei den Kin-
dern ganz anders aufgehoben als bei den Erwachsenen. Es ist, als ob wir uns
alle das Risiko teilen. "Wenn etwas passiert" - daraus wird mir kein Vorwurf
werden. Wir sind von gleicher Art. Wenn wir etwas tun, ist jeder für sich
selbst zuständig. Ich vertraue ihnen, dass sie mir nichts vorwerfen werden.
Ich habe keine Angst vor ihnen. Und weil ich keine Angst vor ihnen habe,
kann ich bei ihnen der sein, der ich sein will: Ich kann sie auf der Stoßstange
mitfahren lassen.

Wir fahren durch Felder und Wälder, Sommerwind. Wir sind glücklich.
Ich lasse mich in dieses Spiel fallen, und nachdem ich rausgefunden habe,
bei welchem Tempo ich noch ruhig bin und sie noch Spaß haben, tun wir
dies so oft, wie es uns bei unseren Treffen in den Sinn kommt.

Sonntag, 14. Mai 2017

Was bedeutet Selbstverantwortung? II



Der Post vom 12.5. zur Selbstverantwortung endete mit dieser Passage:

Wenn das Thema aber "Selbstverantwortung" heißt, und wenn zum Ausdruck
gebracht wird, dass damit eine ganze kulturelle Ebene (die der Erziehung/ des
Patriarchats/ der Hierarchie/ der Moderne) verlassen wird, wie kann da eine
einfache Antwort helfen?

Hier nun die Fortsetzung:

Wie kann man über Amication ins Gespräch kommen, in ein Gespräch, das
fruchtbar ist? Fruchtbar für wen? Für mich, für Dich. Wollen wir über die
Thematik von Existenz (meiner) und Existenz (Deiner) ins Gespräch kommen?
Wollen wir uns überhaupt als Personen begegnen oder als Verstandescomputer,
personenneutral? Und geht so was überhaupt ...?

Was willst Du von mir, wenn Du mich fragst: "Was bedeutet eigentlich Selbst-
verantwortung?" Auf welchen Pfaden wandelst Du? Sachlich - gibt es nicht,
jedenfalls nicht so, nicht bei dieser Frage, die ja mit der gesamten postmodernen
und amicativen Sicht zu tun hat. Willst Du mit mir ein Stück gemeinsame
Lebenswegstrecke gehen, und wir teilen uns mit, was wir rechts und links sehen?
Oder willst Du sagen, was wirklich ist, und ich sollte das einsehen?

"Selbstverantwortung" ist ein praller Begriff, prall voll Leben. Er ist ein sehr
gutes Eingangstor in die amicative Welt. Niemand muss ihn nutzen. Niemand
muss zu diesem Tor gehen, niemand es durchschreiten. Aber man kann all das
tun. Sich entscheiden im Unendlichen: Ich bin.

Es geht mir, wenn ich mit einem anderen Menschen zu tun habe, um Kommuni-
kation. Um Ich-Du. Um Existentielles. Die Sachfragen, die wir erörtern (z. B.:
Was ist Selbstverantwortung?), sind auch interessant. Auch. Wie lassen sich Sach-
fragen erörtern? Viele Antworten. "Sachlich" ist eine. Eine! Von vielen. Die
richtige? Für Dich richtig? Was ist für mich richtig? Steht die Sache über der
Person? Gibt es Sachen unabhängig von Personen? Gibt es die Welt unabhängig
von mir? Gibt es draußen, außerhalb von mir, Wirklichkeit? Wer sagt das? Gibt
es nur Wirklichkeit in mir? Mache ich - wie jeder Mensch - die Wirklichkeit?
Wer sagt, dass das richtig (was ist das?) ist?

Es gibt Bilder, die das einfangen, was ich sagen will: das Bild vom Mosaik,
vom Mandala, von der Kontingenz. Wenn ich mit jemandem über Amication
ins Gespräch komme, entwickelt sich ein feines Gewebe im Hin und Her. Ich
zeige dem Neugierigen etwas von meiner Sicht der Dinge. Mal versteht er, mal
nicht, mal ist Nähe, mal Distanz spürbar. Kommunikation, auf vielen Ebenen.
Unweigerlich kommt dann die Frage "Was verstehst Du eigentlich unter Selbst-
verantwortung?"

Antwort und die Nachfrage und die Nachantwort und alle dann folgenden Hin
und Her sind wie eine Wasserscheide: "Kommst Du mit? Was willst Du? Du
kannst jederzeit wieder gehen. Hier bin ich: Ich bin auch auf Dich neugierig.
Was Du dazu meinst, zu dem, was mir wichtig ist - zu dem, der ich bin - zu mir.
Und zu meiner Art, die Welt zu sehen und mich darin zurechtzufinden. Und zu
Dir, wer Du bist, und zu Deiner Art."

Eine klare, knappe Definition zu "Selbstverantwortung" wäre schal, dürr, leblos,
chancenlos, etwas von dem zu vermitteln, was mir wichtig ist. Also: Auf ins
Gespräch! In die Begegnung! In das Abenteuer Ich-Du. Unsere Beziehungen
zu Kindern sind Abenteuer-Beziehungen. Ich-Du-Beziehungen. Personale
Begegnungen. Voll Authentizität, Kongruenz, Ehrlichkeit. Eben: Existentiell.
Sie sind fruchtbar, konstruktiv, hilfreich. Genau so sind die Gespräche, die
vor, am und hinter dem Tor "Selbstverantwortung" stattfinden.








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Freitag, 12. Mai 2017

Was bedeutet Selbstverantwortung? I



Was bedeutet eigentlich ››Selbstverantwortung«? Es wird eine klare
Antwort erwartet. Ich gebe sie: »Selbstverantwortung ist, wenn jemand
selbstverantwortlich ist. Wenn er, nicht ein anderer, für sich die Verant-
wortung trägt.« Ist die Antwort zu dünn? Unscharf? Unsinnig?

Ein Beispiel wird bemüht: Das Auto fahrt einem Fußgänger das Bein ab.
Ist da Selbstverantwortung im Spiel? Ist der Fußgänger dafür selbst
verantwortlich, dass das Bein ab ist? Natürlich nicht! Oder? Wer ist dafür
verantwortlich, dass der Fußgänger an dieser Stelle war? Musste er dort
sein?

Wer ist dafür verantwortlich, dass dieser Fußgänger überhaupt existiert?
Ohne Fußgänger kein Bein ab! Seine Eltern? Das genetische Programm
"Mensch"? Adam und Eva? Gott? Und wer ist für das Auto verantwortlich?

Ohne Motor würde das Auto nicht fahren. Wer stellte den Motor her? Wer
gewann das Eisen des Motors aus dem Berg? Wieso hatte dieser Berg
überhaupt Eisen? Wo kam der Berg her? Woher kommt die Erde?

Ist das Auto selbstverantwortlich? Ist der Fußgänger selbstverantwortlich?
Ist der Motor selbstverantwortlich? Ist das Bein selbstverantwortlich?

Was soll das? Gegenfrage: Worum geht es Dir, wenn Du nach der Selbst-
verantwortung fragst? Um Klarheit? Um Wahrheit? Um Macht? Um das
bessere Wissen? Gibt es besseres Wissen? Ach ja? Woher die Weisheit?
Zurück auf den Boden der Tatsachen!

Noch ein Beispiel. Jetzt eins, wo es kein Ausweichen gibt. Klare Situation:
Der Räuber Hotzenplotz schlägt Kasperls Großmutter nieder. Großmutter
hat einen Bluterguss. So: Wer ist für den Bluterguss verantwortlich? Klar:
Hotzenplotz. Oder sein Stock? Oder der Mann, der den Baum pflanzte,
von dem der Stock ist? Ist Großmutter für ihren Bluterguss selbst verant-
ortlich? Ihre Haut? Ihr Blut?... Nicht schon wieder dieser uferlose Unsinn!

Wer sagt, was Sinn ist? Der gesunde Menschenverstand! Wer hat den? Der,
der sagt, dass er ihn hat? Der Wissenschaftler vor dem Stammtischbruder?
Der Europäer vor dem Afrikaner? Der Mann vor der Frau? Der Priester vor
dem Laien? Du vor mir? Ich vor Dir? Worum geht es eigentlich? Um eine
klare  Antwort auf eine  einfache Frage. Was aber ist klar? Was ist einfach?
Es geht schon wieder los.

Es geht um etwas anderes. Um Kommunikation, um Beziehung, um Mit-Sein,
um Austausch, um Sich-Erleben im Anderen, um: menschliche Existenz. Um
das "Wer bin ich" und das "Wer bist Du" und das "Was ist die Welt" und das
"Wer bin ich in der Welt" und so weiter. Es geht um eine existentielle Thematik.
Jede Sachfrage hat dies als Untertergrund. Es schwingt unter jeder Sachfrage
Tausenderlei  mit: Weltbilder, Denkschulen, Traditionen, Religionen, Machtfragen,
Ängste, Träume, Eitelkeiten, Haß, Liebe, Tod, Leben. Der Sachbegriff "Selbst-
verantwortung" ist wie ieder andere Sachbegriff auch (Auto, Motor, Holz eben
nicht lediglich ein Sachbegriff.

Und wer "Selbstverantwortung" nur so (sachlich) sehen und nur darüber ins
Gespräch kommen will, legt vorher etwas fest: nur so (sachlich) darüber zu
reden. Und diese Festlegung trifft er auf der existentiellen Ebene. Es gibt
Begriffe (wie Auto, Motor, Holz), da wird die existentielle Ebene kaum eine
Rolle spielen. Wir reden dann über Autos, sonst nichts. Tatsächlich? Wenn man
über Autos redet, diskriminiert man allein dadurch, daß man Autos für der Rede
wert hält, die Natur. Oder die Kinder, die von Autos gefährdet werden. Oder.

Wenn das Thema aber "Selbstverantwortung" heißt, und wenn zum Ausdruck
gebracht wird, dass damit eine ganze kulturelle Ebene (die der Erziehung/ des
Patriarchats/ der Hierarchie/ der Moderne) verlassen wird, wie kann da eine
einfache Antwort helfen?

Fortsetzung folgt.

Mittwoch, 10. Mai 2017

Kinderland: Pferde, Hunde und Co.


Als ich mit den Kindern meines Forschungsprojekts über
postpädagogische Beziehungen unterwegs war, habe ich
ab und zu etwas von unseren Erlebnissen aufgeschrieben.
Hier sind drei Situationen mit Claudia, sie ist 12 Jahre alt.

*

Claudia liebt Pferde. "Ich will dort zu den Pferden."
"Aber nicht über den Zaun." Wenn sie so einfach in die
Koppel geht, das könnte gefährlich werden, denke ich. Am
Zaun gibt es Krach. Sie will rüber, ich habe Angst. "Mir
wäre lieber, wenn Du nicht rübergehst." Beginne ich, Clau-
dia zu beherrschen? Ich merke, dass ich damit anfange. Mir
fällt etwas ein: Ich kann ja weggehen und muss nicht dabei
sein, wenn sie über den Zaun klettert. Sie weiß, wie ich
darüber denke, und die anderen, die dabei sind, können es
bestätigen, wenn etwas passiert. Ich mauschel mich irgend-
wie aus der Affäre, aber ich habe Machtkämpfe satt. Und
ich überlege mir, dass ich mich beim nächsten Mal nicht
mehr so anstellen werde. Claudia kommt dann rasch nach,
wir kommen ins Gespräch über Pferde. Ich erfahre, dass sie
Turniere reitet. Na bitte - wieso muß ich immer Angst
haben?

*

Claudia muss heute auf einen Hund aufpassen. Wir fahren
zu meiner Wohnung, und ich sage: "Der Hund bleibt im
Auto. Er ist mir zu schmutzig, und ich habe keine Lust,
nachher extra sauber zu machen." Er starrt wirklich vor
Dreck! Nach einer Weile schleppt Claudia den Hund in die
Wohnung. Ich bin sauer und fühle mich nicht akzeptiert.
"Ach, der tut doch nichts", sagen die anderen. Sie verstehen
nicht, wieso ich gegen den Hund bin. Aber sie bekommen
mit, dass ich nicht will. Sie reden auf Claudia ein, den Hund
wieder rauszubringen. Aber sie will nicht. Ich ärgere mich.
Erst als wir wieder zurückfahren, nach zwei Stunden, werde
ich gelassener. Sie hat eben gewonnen, sage ich mir. Das
kommt vor. Ich kann die Niederlage jetzt annehmen und
habe zu Claudia wieder gute Gefühle. Und ich denke listig,
dass wir nicht wieder zu meiner Wohnung fahren, wenn "so
ein süßer Hund" dabei ist.

*

Claudia hat wieder den Hund dabei. "Der kommt nicht
in die Wohnung." Das steht fest. "Wir können ja auch
woanders hinfahren", biete ich an. "Ist gut, er kann im Auto
bleiben", Claudia ist einverstanden. Dann aber, in meiner
Wohnung: "Der ist doch so allein im Auto." Dass sie mit ihm
im Auto bleiben kann oder dass wir alle woanders hinfahren,
will sie nicht. "Lass ihn doch rein." Als ich dann mal nicht
aufpasse, ist der Hund da. Ich kommandiere ihn auf den
Balkon und lasse mich auf nichts ein. Claudia ist wütend. Sie
geht mit auf den Balkon. Sie redet nicht mehr mit mir. Ich
habe blöde Gefühle, aber auch keine Lust, mich schon wie-
der unterbuttern zu lassen. "Claudi friert", sagen die anderen.
Sie sind auf ihrer Seite. Bin ich zu kleinkariert? Ich will eben
nicht. Wir hatten schließlich ein Abkommen, und wir hätten
ja auch woanders hinfahren können. "Dann bringt ihr doch
eine Jacke", reagiere ich, Auf der Rückfahrt sagt mir Claudia,
wie gemein ich bin. Ich lasse ihr ihre Meinung und denke
nicht daran, sie "umzustimmen". "Ich hatte keine Lust auf
den Hund in meiner Wohnung" ist alles, was ich sage. Und:
"Letztes Mal hast Du gewonnen, heute Hubertus. Ihr könnt
Euch wieder vertragen" sagt Moni (11). "Besser, Du bringst
den Hund nicht mehr mit", sagt Jürgen (13). Beim nächsten
Treffen verstehen wir uns wieder. Über die Hundegeschichte
wird nicht mehr geredet.

Montag, 8. Mai 2017

Christiane Rochefort


Neben dem Buch von Frédérick Leboyer steht in meinem Bücherregal
"Kinder" von Christiane  Rochefort aus dem Jahr 1978, erschienen in
Frankreich 1976. Ihr Diktum "Kinder sind eine unterdrückte Klasse" will
verstanden sein, darauf gehe ich ein anderes Mal ein. Und ihr Buch "Zum
Glück gehts dem Sommer entgegen" ist ein Klassiker. Heute stelle ich aus
"Kinder" eine subtile Textstelle von ihr vor, ein bisschen zum Reinhören in
sich selbst.

*

Mit sechs Jahren ungefähr wird einem allmählich klar, wo man
hineingeraten ist- eijeijei. Man kapiert, welchen Preis es kostet,
gegen den Strom schwimmen zu wollen. Und welchen Gewinn
man hat, wenn man mitspielt. Man hat gelernt zu rechnen. Kurzum:
man wird allmählich vernünftig - in dem Sinne, wie der Fragende
zum Befragten, der gerade anfängt zu sprechen, sagt: "Ich sehe,
dass du vernünftig wirst." Um zu überleben, um Ärger zu vermeiden,
um Gnade zu finden, um geliebt zu werden, das heißt um der eigenen
Sicherheit willen, muss man sich nach diesem seltsamen Begriff
„Vernunft“ richten. Wird man sich tatsächlich danach richten?

Bis zu ungefähr zehn, zwölf Jahren trifft man eine Wahl, nicht selten
unter heftigen Konflikten. Der Ausgang dieses inneren Kampfes ist
von tausend Faktoren abhängig, unter anderem davon, wieviel man
von seiner ursprünglichen Lebensenergie hinüberretten konnte, außer-
dem von der Art und Stärke des ausgeübten Druckes sowie von dem
Maß an Liebe, die man für seine Eltern empfindet. Dieser Abschnitt
wird vom Psychoanalytiker „Latenzperiode“ genannt. Es wird an-
genommen, dass während dieser Zeit die Sexualität zurücktritt und
das Gedächtnis die Funktion einer Zensur übernimmt.

Die Sexualität muss also wieder mal herhalten, um die gesellschaft-
liche Kausalität zu verschleiern. Wenn diese Experten jemals wirklich
Kinder gewesen wären, dann wüßten sie, dass nichts schwerer zu
ertragen ist als die Niederträchtigkeiten, die zu begehen man gezwungen
war. Erniedrigung, die schweigend geschluckt wurde. Bei Analysen ohne
ödipale Sperre kommt es dann wieder heraus. Es sind keine ruhmreichen
Erinnerungen, und man möchte sie lieber vergessen; man denkt nicht gern
an so klägliche Erlebnisse zurück.

Am wenigsten tun dies edle und stolze Ritter - und alle Kinder sind
Ritter, Mädchen ebenso wie Jungen, solange sie es nicht mit der Angst
zu tun kriegen.

Latenzperiode! Eine Periode der Kapitulation, Vergleichsabschlüsse,
Kompromisse. Daran ändert auch nichts, dass solche durch höhere
Gewalt bewirkt werden: man fühlt sich frei, empfindet das alles nicht
als gewaltsam. Und zu den rasenden Schuldgefühlen, die von den
moralischen Instanzen erzeugt werden, muss noch die Lust am Verrat
hinzukommen. Zum Verrat an etwas Wertvollem, Echtem. Man hat
sich ergeben. Die Erwachsenen ahnen ja nicht, was in den Köpfen und
Seelen von Rittern auf der Suche nach dem Gral vorgeht.




Donnerstag, 4. Mai 2017

Frédérick Leboyer


Bis vor nicht allzu langer Zeit fühlten sich bei einer Geburt die
beteiligten Erwachsenen zuständig dafür zu sorgen, dass die
Babys sich auf die Luftatmung umstellen. Hierfür waren sie
sich verantwortlich. Die Babys waren dies nicht.

In meinen Vorträgen gibt es eine Passage, in der ich von den ersten
Atemzügen der Babys erzähle. Die sie direkt nach der Geburt in
eigener Regie tun - wenn wir sie dies denn tun lassen und sie dabei
nicht stören. Aus lauter Sorge, sie könnten ohne unser Eingreifen zu
Schaden kommen. Stören, in dem wir ihnen das Heft aus der Hand
nehmen und sie zum Atmen veranlassen, drängen, zwingen - aus 
unserer Verantwortung heraus, wie wir meinen, und die die Babys
nicht für sich haben.

Doch das "selbstverantwortlich von Anfang an" wird in der Geburts-
situation sehr anschaulich und konkret. Wenn ich davon erzähle, dass
die Babys sich sehr wohl allein, in eigener Verantwortung auf die Luft-
atmung umstellen können, sind meine Zuhörer gebannt und angerührt.

Neulich habe ich das Buch "Geburt ohne Gewalt" von Frédérick
Leboyer aus dem Jahr 1974 wieder einmal in der Hand gehabt und
die wahrhaft revolutionäre Stelle nachgelesen. Hier ist sie:


*

Die Hauptgefahr für das Kind während der Geburt besteht in der
Anoxie, das kann nicht genug betont werden. Anoxie bedeutet
Mangel an Sauerstoff, und besonders das Nervengewebe reagiert
darauf äußerst empfindlich. Wenn ein Kind vorübergehend zu wenig
Sauerstoff erhält, so führt das zu irreparablen Schäden im Gehirn, die
es möglicherweise sein Leben lang zum Krüppel machen. Mit anderen
Worten: das Kind darf unter keinen Umständen, zu keinem Zeitpunkt
der Geburt in einen Sauerstoffmangel geraten. Nicht einmal für kurze Zeit.
So sagen die Experten, und sie haben recht.

So sagt es auch die Natur.

Darum hat sie es so eingerichtet, daß das Kind in der gefährlichsten
Phase unmittelbar nach der Geburt aus zwei Quellen Sauerstoff
erhält: aus seinen Lungen und aus der Nabelschnur. Beide Systeme
arbeiten gleichzeitig, allmählich löst eins das andere ab: das alte, die
Nabelschnur, versorgt das Kind noch so lange ausreichend mit Sau-
erstoff, bis das neue, die Lungen, diese Funktion in ausreichendem
Maße übemehmen können.

So bleibt das Kind, das eben erst den Mutterleib verlassen hat, noch
einige Minuten lang durch die kräftig pulsierende Nabelschnur mit ihr
verbunden. Vier, fünf Minuten, manchmal noch länger.

Der Sauerstoff, den es weiterhin über die Nabelschnur erhält,
schützt es vor Anoxie, so dass es gefahrlos und ohne Schaden zu
nehmen in aller Ruhe mit dem Atmen beginnen kann, langsam und
ohne etwas zu überstürzen. Das Blut hat Zeit, nach und nach die
alte Bahn zu verlassen (die zur Placenta führte) und zunehmend
die Lungenstrombahn zu entfalten.

*

Wie kommt es zu dem ersten Schrei?

Wenn das Kind herauskommt, wird der Brustkorb, der bis dahin
aufs Äußerste zusammengepreßt war, plötzlich durch nichts mehr
eingeengt und öffnet sich. Es entsteht eine Leere, in die die Luft
sogleich mit Wucht eindringt. Es ist ein passiver Vorgang. Das ist
der erste Atemzug.
Das ist die Verbrennung.
Das Kind beantwortet diese Verletzung, indem es ausatmet.
Zornig jagt es die Luft wieder hinaus.
Das ist der Schrei.

Danach ist es oftmals eine Weile still. Erstarrt vor Schmerz macht
das Kind eine Pause. Manchmal wiederholt sich der Schrei auch
zwei, drei Mal, bevor die Pause eintritt.

Wenn wir ihm Zeit zu einer Pause lassen.

Meistens verlieren wir hier die Nerven, und dann gibt es gewöhnlich
Ohrfeigen, Poklatschen und kaltes Wasser.

Doch inzwischen haben wir dazugelernt und können unsere
Impulse beherrschen. Wenn wir der Natur und den kräftigen
Pulsationen der Nabelschnur vertrauen, brauchen wir uns nicht
einzumischen. Wir werden sehen  dass die Atmung von allein
wieder einsetzt. Zunächst zögemd, vorsichtig, immer noch mit
kleinen Pausen.

Das Kind, das von der Nabelschnur noch Sauerstoff erhält,
nimmt sich Zeit und nur so viel von der feurigen Luft, wie es
ertragen kann. Es hält ein, beginnt von Neuem. Es gewöhnt sich
langsam und atmet tiefer. Bald findet es Gefallen an dem, was
eben noch grausam und verletzend war.

*

Wenn die Nabelschnur aufhört zu pulsieren, schneiden wir sie
durch. Kein Schrei, keine Bewegung, nicht einmal ein Zittem
kommt von dem Kind. In Wirklichkeit haben wir nichts durch-
trennt. Ein totes Band ist abgefallen Das Kind wurde nicht von
seiner Mutter fortgerissen. Sie haben sich voneinander gelöst.

Wie wohltuend, wie einleuchtend ist eine solche Geburt. Die
Mutter hat ihr Kind noch ein Stück begleitet. Indem sie ihm über
die Nabelschnur noch weiterhin Sauerstoff zukommen ließ, hat
sie ihm geholfen, seine ersten Schritte in dieser furchterregenden
Welt zu machen.

Ähnlich wird es später sein, wenn das Kind laufen lernt und die
Mutter ihm eine Hand anbietet, an der es sich festhalten kann.
Eine geöffnete Hand, die das Kind ergreifen und wieder loslassen
kann, in dem Maße wie es seiner eigenen Kraft vertraut.

Montag, 1. Mai 2017

Das tun, wenn Kinder streiten


Zwei Dreijährige streiten. Ines reißt Melanie an den Haaren. Melanie beißt. Sie schreien und heulen sich an. Ich bin dabei, knie vor ihnen und sehe sie vor mir. Ich nehme auf, was sie tun, und mein Gesicht drückt aus, dass mich ihr Streit angeht und wie er mich angeht. Ich spüre ihr Leid und das Gewitter ihres Zusammenstoßes. Es geht darum, dass Ines auch mal Melanies Rad benutzen will. »Ist meins«, sagt Melanie, und sie will nicht.

Ich habe keine Aufforderung zum Schlichten erhalten. Weder Ines noch Melanie wenden sich an mich, ihr Problem zu lösen. Und selbstverständlich lasse ich sie ihren Streit führen. Wie hätte ich das Recht, mich in ihre Angelegenheiten einzumischen, unaufgefordert? Ihre Angelegenheiten sind gerade sehr laute Angelegenheiten, mit Schmerz und Leid, Wut, Zorn und Ärger.

Soll ich mich als Oberschiedsrichter betätigen und »Frieden stiften«? Frieden stiften: Ich habe oft genug erlebt, dass »friedenstiftende« Erwachsene ihre Macht ins Spiel brachten, um einen Konflikt zu beenden. Da stoppt jemand mit seinen Machtmitteln – mit lauter Stimme, körperlicher Überlegenheit, psychischem Druck – den Krach der anderen. Er wird aggressiv, um Aggressivität zu beenden. Er führt den Superkrieg, um den Krieg der Kleinen zu befrieden. »Alles hört auf mein Kommando« – die Ordnungsmacht hat gesprochen. Wer sich so den Kindern gegenüber verhält, sollte sich im klaren darüber sein, dass er den Kindern vorlebt: Mit Herrschaft und noch mehr Aggressivität und Macht kann man einen Konflikt beenden. So ein Erwachsener stiftet nicht Frieden, sondern er stiftet zum nächsten Krieg an.

Ich will uns Erwachsenen dies nicht zum Vorwurf machen. Wir sind schließlich in einer Tradition des erzieherischen Befriedens groß geworden. Wir haben Angst vor aggressiven Auseinandersetzungen und wünschen uns den Frieden so sehr, dass wir auch schnell bereit sind, ihn mit kriegerischen Mitteln herzustellen. Unsere Angst und Unfähigkeit, aggressive Konflikte als menschliche Realität zu akzeptieren, macht uns hilflos und uneffektiv.

In der Amication wird erkannt, dass Kinder mit ihrem Streit leben können – schlicht und einfach. Streit wird nicht zu dem Problem, das Erwachsene darin sehen. Mit einer amicativen Einstellung kann man von den Kindern den unverkrampften Umgang mit dem Streit wieder entdecken, wie man ihn selbst als Kind praktiziert hat, und man hat die Möglichkeit, sich nicht in ihren Streit einzumischen.

Wenn ich mich so vor Ines und Melanie hinknie und »da bin« (emotional und konzentriert anwesend bin), dann bringe ich ein, was ich an friedenstiftenden Dingen geben kann: »Ich mag euch. Jeden von euch. Ich mag euch, auch wenn ihr streitet.« Und ich bin schon ein Stück weiter: » Ich mag Euch – ob Ihr streitet oder nicht streitet. Es ist nicht wichtig für das Mögen, was Ihr tut: streiten oder nicht streiten. Ich mag Euch ohne Vorbedingungen. Ich mag Euch als Streitende und als Nichtstreitende, wie es kommt.« Ich habe Platz in mir für ihre Aggressivität, die mir in den Ohren gellt. Und für ihre Wut und ihren Zorn, die in mir tiefe Gefühle aufrühren. Ich lasse mich auf ihren Streit auch mit meinem Gefühl ein, dies verwirrt mich nicht. Ihr Geschrei, ihr Weinen und ihre Tränen sind für mich nicht das Signal, besorgt und angstvoll einzugreifen. Im Zusammensein mit den Kindern entdecke ich dies wieder: Sie vertrauen mir ihren Streit an, ihre Tränen und ihre Wut. Es ist ein kostbares Anvertrauen. Und nicht geeignet für »befriedendes Helfen«.

Kinder lösen ihre Konflikte ohne Erwachsenenhilfe. Da gibt es Niederlagen und Siege und Einigungen. Wie es eben kommt. Das Verlieren enthält keine Dramatik, das Gewinnen auch nicht. Es kommt und geht, und schon kommt Neues. Ihre Grundeinstellung dem Konflikt gegenüber ist von anderer Art als unsere Erwachseneneinstellung hierzu.

Für den Erwachsenen gibt es in der Amication den streitenden Kindern gegenüber eine freundliche Neutralität. Neutral: Erwachsene mischen sich nicht in die streitenden Angelegenheiten von Kindern ein. (Es sei denn, man kann ihren Streit nicht mehr mit ansehen, er ist zu wild, zu ungerecht, zu gefährlich, was auch immer. Doch was sich dann tun lässt, ist ein anders Thema.) Freundlich: Erwachsene stehen nicht abseits, sondern sie fühlen sich in die Situation einbezogen, sie sind konzentriert und gefühlsmäßig präsent. Sie sind da für die eventuelle Ansprache der Kinder: »Hilf mir« – »Ich mische mich nicht ein« – »Was können wir machen (um uns zu einigen)?« – »Ich schlage vor...« – »Der ist so gemein« – »Ja (ich spüre Deinen Ärger und Zorn)«. Und: Es gibt keine bösen Streiter. Der Schuldvorwurf hat in der Amication nichts verloren, auch nicht, wenn Kinder streiten.

Nachdem Ines das Rad nicht bekam, lief sie aus dem Hof in den Garten. Ich war mit Melanie allein. Sie sah mich an und ich merkte, dass sie das kannte: Die Angst, etwas angerichtet zu haben und bestraft zu werden. »He, Du, hallo«, sagte ich und sah sie warm und aufmerksam an. In ihren Augen lebte das Vertrauen zu mir, und sie wandte sich um und ihrem Rad zu. Ich ging zu Ines, setzte mich in ihre Nähe und sprach sie nicht an. Wozu etwas sagen? Ich brachte ihr Wichtigeres als Gerede mit: Mein »Ich bin da und habe Zeit für Dich«. Sie sah, dass ich gekommen war, kam aber nicht zu mir und sah auch nicht zu mir hin. Ich setze mich an den Zaun und dachte über dies und das nach. »Schaukelst Du mich?« Das Leben geht undramatisch weiter, wenn wir seine Erscheinungen akzeptieren und kein Drama daraus machen.