Freitag, 30. Juni 2017

Amication leben, Helmut



















Mein gegenwärtiges Leben wird vielleicht durch den Kontrast des
vergangenen deutlich.

Ich lebte bis zum 5. Lebensjahr in einem Kinderheim, lernte seitdem,
bei Erwachsenen/Eltern, Wünsche und Gebote von anderen als Preis-
gebot für Liebesware anzusehen. Mit der Münze des Gehorsams zahlte
ich bar für das, was sich als Liebe und Freundschaft ausgab (es oft -
wenn auch durch Erziehungsanspruch karikiert - war). Befehle und
Wünsche mussten kaum durch Nachdruck unterstützt, oft nicht einmal
ausgesprochen werden, ich kam ihnen meistens zuvor, in der Hoffnung,
angenommen zu werden.

Schon im Kinderheim hatte ich mich soweit aufgegeben, dass eine
Papier-Maske in einem dämmrigen Bestrafungsraum (nur zwei
solcher Strafaktionen hatte ich in diesem Haus »nötig«!) mich in
bodenlose Todesangst versetzte. Dass ich liebens-wert oder zumin-
dest der Achtung würdig sei, wagte ich nie ernst zu glauben. Und
doch sehnte ich mich mit jeder Faser meiner Person danach. Noch
als Fünfunddreißigjähriger spürte ich die kehlenschnürende Angst
dieser hohlen Erziehungsmaske so unabweislich, dass ich immer
wieder mit dem Gedanken umging, meinem Leben ein Ende zu
setzen. Bis dahin war das Bedürfnis nach Liebe und Achtung von
mir erfolgreich durch Gefälligkeit gegenüber jedem ersetzt worden,
der meinen Hoffnungen Erfüllung versprach.

Als braver Sohn, der seine Eltem nicht enttäuscht, machte ich
Abitur, begann mich auf den Priesterberuf in einem katholischen
Orden vorzubereiten, ging da weg, wurde nach meiner Promotion
zum Dr. phil. Gymnasiallehrer. Mit den Mitteln, die mich meiner
Selbstachtung, meiner mir eigenen Macht beraubt hatten, wollte ich
anderen Menschen - vor allem Kindem - Zuwendung gar Liebe
schenken: Predigen, belehren und Ungerechtigkeit/Unmenschlich-
keit durch politischen Kampf (zuweilen aggressiv und polemisch -
ich musste meinen Mitstreitem ja schließlich gefallen!) beseitigen.

Sieben Jahre nach meinem Eintritt in den Schuldienst - ich hatte
inzwischen geheiratet, zwei Söhne kamen zur Welt, - stieß ich in
pädagogischer Absicht im Kreis einer Gesamtschulinitiative an
einem Abend auf Hubertus von Schoenebeck, der von Amication
berichtete. Intensive Kontakte in einer etwa einjährigen Selbster-
fahrungsgruppe, die sich von der Idee der Amication in Bewegung
gesetzt fühlte, waren die Wehen meiner zweiten und entscheidenden
Geburt. Als die Gruppe sich nicht mehr regelmäßig traf, war ich
nach 35 Jahren endlich bei mir angelangt.

Es dauerte trotzdem noch einige Zeit, bis ich dahinterkam, dass ich
Gefahr lief, die Amication, wie so oft vorher, als eine Lehre anzusehen,
als ein Sicherheit versprechendes Konzept oder gar Rezept. War es
wieder nur eine Heilslehre, der ich mich unterwarf, um meine Angst
loszuwerden? Nach Gesprächen mit Bekannten und Interessierten,
die zufällig mit mir auf die Amication kamen, fiel mir mehrfach auf,
dass ich in mein altes Muster zurückgefallen war: Aussprüche und
Thesen von anderen, die die Amication schätzten, verteidigte ich wie
Glaubenssätze oder Theorien.

Die Angst saß mir im Nacken: »Werden die dich noch akzeptieren,
noch als zu ihnen gehörig ansehen, wenn du Bedenken des an der
Amication zweífelnden Gesprächspartners teilst, zugeben musst,
dass du das alles noch nicht umfassend praktizierst?!« Die Furcht
des Ausgestoßenwerdens verwandelte sich dann wieder in theore-
tische Absichtserklärungen oder gar in missionarischen Eifer.

So auch bei meiner Frau, mit der ich seit 10 Jahren verheiratet bin.
Auch so eine Partnerschaft, in der meine Gefälligkeitsblindheit zu
einem Scheinerfolg geführt hatte. Was sollte ich tun gegenüber einer
Partnerin, die die Amication zwar theoretisch gut fand, sie aber für
undurchführbar hielt und noch immer hält, bei Kindern, die schon
vier oder fünf Jahre unter Erziehungsbedingungen aufgewachsen sind?
Mein neues Selbstbewußtsein, meine Versuche, rnit den Kindern anders
zu leben, führten zu schweren Konflikten. Manchmal schien eine Tren-
nung die einzige Lösung. Bisher ängstlich von mir abgehlockte Bezie-
hungsmöglichkeiten außerhalb unserer Ehe-Partnerschaft (ich wollte
bis dahin ja nicht durch Liebesverlust »bestraft« werden!) verschärften
die Lage noch.

Ähnlich verlief es in der Schule. Schritte in Richtung Amication führten
zu Auseinandersetzungen mit Eltern und Kollegen. Das ging bis zu Maß-
nahmen der Bezirksbehörde.

Etwa eineinhalb Jahre stand ich unter dem dauernden Druck, mit
Familie und Schule brechen oder meine neugewonnene amicative
Perspektive als Irrtum zurückzunehmen. Auch jetzt gehe ich manch-
mal mit der Frage herum, ob ich mich bei allen noch immer erziehe-
rischen Verhaltensweisen auf dem »richtigen« Amications-Weg
befinde.

Zu viel hat sich aber entscheidend verändert: Im Leben mit meiner
Ehe-Partnerin gibt es keine falschen »Liebesbeteuerungen« mehr.
Was wir zusammen leben können, finden wir immer wieder neu
heraus. So viel Offenheit und gegenseitige Achtung haben wir in all
den vorhergegangenen Jahren nicht erfahren. In der Beziehung zu
unseren Kindern beobachte ich oft eine erstaunliche und heilsame
Wechselwirkung: Wo ich in manchen Situationen in die alten
Beziehungspraktiken zurückfalle, entdecke ich bei meiner Partnerin,
die grundsätzlich an Erziehung festhält, Augenblicke, in denen sie
die freie Entscheidung der Kinder achtet, sie unterstützt, sich ihnen
ohne erzieherische Vorbedingungen zuwendet, sie mit ihren Bedürf-
nissen ernsthaft wahmimmt. Die Grenzen unserer Erziehungsan-
sprüche sind schon merklich zurückgewichen und wir fühlen uns
dabei wohler.

In der Schule ist das für mich ähnlich: Ich habe nicht die Kraft, aus
diesem System der mit Zwang arbeitenden Lernorganisation wegzu-
gehen, will nicht arbeitslos sein und muss mich selbst doch nicht dazu
erziehen, um den Preis meiner Selbstachtung und Gesundheit Schü-
lern Freiheit und selbstbestimmtes Lemen zu »erkämpfen«. Und
doch gibt es auch in diesem Raum des Zwangslernens, an dem ich als
Lehrer beteiligt bin, so viele Situationen, wo ein Stück dieser freien,
gleichberechtígten Begegnung Leben wird.