Sonntag, 15. Oktober 2017

Geburtstag






















Es ist ein wunderschöner sonniger Oktobertag. Als die Wehen
einsetzen, telefoniert  die Schwägerin meiner Muttter mit der
Klinik nach einem Krankenwagen. Aber es sind alle im Einsatz.
Wir wohnen im Gartenhaus der Firma, also Anruf vorn bei der
Pforte.

Ja, ein Mannschaftswagen der Werksfeuerwehr ist einsatz-
bereit. Er fährt vor, wir steigen ein, es kann losgehen. "Stopp",
ruft meine Mutter, "nicht anfahren. Das Baby kommt jetzt,
sofort!" Also kein Krankenhaus, keine Hebamme, kein Arzt?
"Nein, das kriege ich auch so hin."

Meine Mutter ist auf einem Gutshof großgeworden, sie hat
viele Tiergeburten miterlebt. Es geht jetzt um ihr zweites Kind,
sie vertraut der Natur und Gott, sie ist ganz unaufgeregt. "Das
wird schon." Ihre Schwägerin ist Bürokauffrau, Großstadtkind,
nicht vom Land, keine eigenen Kinder. Sie ist entgeistert. "Wie,
ohne Arzt? Ohne Hebamme?" "Klar doch", sagt meine Mutter.

Die Wehen werden heftiger. Meine Mutter legt sich kurz
entschlossen auf die Sitzbank. Ihre Schwägerin läuft ins
Haus, um etwas zum Einwickeln des Babys zu holen. Das
kommt ja schon! Der Fahrer des Wagens bleibt irritiert
von so viel Frauenkram vorn sitzen.

Es geht schnell, sehr schnell. Kaum ist die Schwägerin mit
einem Nachthemd, "meinem besten", da, setzt die Geburt
ein, ein paar Presswehen, der Kopf kommt, das Baby ist
da.

Meine Mutter zieht mich nach oben, auf ihre Brust. Da lieg
ich und es fühlt sich prima an. Wir waren ein gutes Team,
meine Mutter und ich. Harmonie, Leben, Liebe, Glück.
Unfassbar das alles, und doch so selbstverständlich. Eine
Geburt eben, Beginn eines neuen und ewiggleichen Kreis-
laufs. "Hallo Mutti", staune ich. "Hallo Hubertus", flüstert
sie.

"Da muss doch abgenabelt werden", davon hat meine Tante
gehört. "Es ist dringend, sonst kann er nicht atmen." Meine
Mutter hat all die kleinen Ferkel, Kälbchen und Lämmer vor
Augen. "Abnabeln? Das geht doch alles von allein. Das klappt
schon. Schau doch, er atmet schon! Kriegt er doch selbst hin.
Wie die Tierbabys. Da ist er nicht anders."

30 Jahre später entdeckt Frederick Leboyer das selbstbe-
stimmte Atmen der Babys wieder. Nabelschnur zudrücken,
abnabeln? Nein, nicht bevor das pulsierende Blut der Nabel-
schnur vom Körperdes Babys eingesaugt wird. Für den Lun-
genkreislauf, der jetzt erst in Gang kommt. Die Lunge war
nicht entfaltet, erst das Atmen des Babys bringt die Lunge in
ihre Funktion. Erst stellen sich die Babys in eigener Regie auf
die Luftatmung um, dann abnabeln. Nicht umgekehrt! Zu
frühes Abnabelnnimmt den Babys ihre Harmonie und ist ein
schwerer schädlicher Eingriff in die Lebensfunktion des Neu-
geborernen. Das damals selbstverständliche sofortige Abnabeln
zwingt die Babys zur Luftatmung. Weil durch das Zudrücken der
Nabelschnur der Sauerstoff, den das Nabelblut gratis liefert,
ausbleibt, atmen die Babys zu früh, nicht in Übereinstimmung
mit ihren Signalen. Das sofortige Zudrücken der Nabelschnur
mit anschließende Abnabeln ist ein störenden Eingriff in die
Selbstregulation des Babys.

Das alles weiß damals niemand, und "Abnabeln sofort" ist das
Gebot der Stunde. Sonst gäbe es schwere Hirnschäden. Man
muss die Babys durch das Zudrücken der Nabelschnur zur
Luftatmung bewegen. Sonst würden sie nicht atmen.

Meiner Tante ist äußerst unwohl. Es muss doch zugedrückt
und abgenabewlt werden!  Aber dann sieht sie, dass ich
von selbst zu atmen begonnen habe.. Und sie wickelt mich
erleichtert in ihr bestes Nachthemd. Sie sieht meine Mutter
an, meine Mutter sieht sie an. Und dann lachen sie. "Prima
hast Du das gemacht!" "Ja," sagt meine Mutter. "Jetzt können
wir zum Krankenhaus fahren." Das machen wir dann auch.

Der erste Atemzug gehörte mir, wie alle anderen noch. "Wir
Babys, Kinder, Menschen gehören uns selbst. Wir sind selbst-
verantwortlich. Und wir müssen nicht erst zu richtigen Menschen
gemacht werden. Wie kann man nur Kinder erziehen wollen? "

"Mach Dir nicht zuviele Gedanken. Du kannst dich später
dafür einsetzen. Jetzt trink erst mal." Meine Mutter sieht
mich liebevoll an.