Samstag, 21. Oktober 2017

Vom Jaulen und der Harmonie, I





 


















Corbinian ist drei Jahre alt. Er jault ein bisschen, nicht viel, aber unan-
genehm, für meine Ohren. Irgend etwas passt ihm nicht. So verstehe
ich dieses Meckern, diese Töne, diese Psycho­frequenzen. Aber es liegt
nichts an. Jedenfalls nichts Aktuelles. Wir haben keinen Zoff. Ich bin
(gerade) zufrieden. Er ist es auch. Bis eben. Aber dann hat da diese
Jaulerei begonnen, nicht laut, leise, aber hörbar. »Mir passt was nicht.«
Soweit, so klar. Ich verstehe: Etwas stört ihn. Und da ich mein Kind
liebe (das ist die Basis des Geschäfts), will ich ihm helfen. Also: »Was
ist los, Corbinian?« Ich bin nicht angestrengt bei dieser Frage, auch nicht
betulich. Ich reagiere ziemlich beiläufig: »Was hast Du?«

Aber nichts kommt. Keine Antwort. Nur weiter diese kleine Jaulerei
(die große Jaulerei wäre eine Katastrophe, aber das ist es jetzt nicht).
 »Was hast Du denn?« Nichts kommt außer Jaultönchen. Natürlich ver-
steht er mich, er ist drei Jahre alt, und er ist klug. Er weiß, dass ich ihm
helfen will, aus seinem Ungemach heraus. Und ich denke, dass er auch
weiß, dass ich das kann. Er spricht mich ja an. Und ich bin guten Willens
und will ihm gern helfen. Aber: ich bekomme nicht die Information, die
ich brauche, um ihm zu helfen. »Soll ich dies oder das tun?« Ich mache
Vorschläge, ziele auf das, was ich als sein Ungemach vermute, aber das
trifft es nicht. Oder es trifft es zwar, aber er reagiert darauf nicht so, dass
ich damit weiterkomme. Mit seiner Ruhe, die gerade dahin geht.

Klar weiß ich, dass man solche unergründlichen Klein-Jaulereien den Kin-
dern auch lassen kann. Sie haben alles Recht auf diese Töne, ich muss
da nichts richten. Ich kann das als eine »Ausleitung« sehen, einen Psycho-
eiter,der raus will und eben so rauskommt. Das geht ja auch wieder vorbei.
(Wennes nicht zur Jaulorgie wird, aber das ist ein anderes Thema.) Es geht
ja auch wieder, und ich muss da jetzt keinen auf Verständnis, Therapie und
Co machen. Ich könnte es ihm auch lassen und meine Dinge tun. Er wird
schon klarer werden, wenn es ihm wichtig ist. Sonst bleibt er eben so un-
scharf, wie das gerade kommt. Und aus.

Aber ich bin doch anders drauf. Sein Ungemach kann ich jetzt, heute, gerade
nicht einfach stehen lassen. Ich will antworten, mich kümmern, helfen. Hel-
fersyndrom? Quatsch, zu hoch gegriffen. Es ist einfacher: Ich bin der Vater,
dort ist mein Kind. Und das hat ein Beschwer. Und da kümmer ich mich.
Also zum dritten Mal: »Was willst Du? Sag mir, was Du brauchst.« Doch
da kommt weiter nichts. 

Egal wie das konkret weitergeht (da gibt es so viele Wege wie es Väter und
Mütter gibt): Ich bekomme jetzt etwas anders in den Blick, etwas Grund-
sätzliches, das mir Corbinian wachruft. Es fällt mir nicht sofort auf, sondern
erst abends, wenn er im Bett ist, und ich über diese »belanglose« Alltags-
szene ins Nachsinnen komme.

»Ich will etwas nicht. Ich will das eigentlich nicht. Nein. Das passt mir nicht.
Das muss ich nicht haben. Es soll weggehen. Es stört mich. Es nervt. Geh,
geh weg.« Energie gerichtet an irgend etwas, an etwas, das stört. Eine klare
Botschaft: Geh jetzt, aus meinem Leben. Jedenfalls jetzt. Und das kann alles
und nichts sein. Bei Corbinian könnte das ein Hund sein, der ihn schnuppern
will (Hundenase und Kindergesicht sind auf gleicher Augenhöhe); der Bruder,
der ein Buch nicht hergibt; ein Schuh, der nicht zugeht. 

»Ich muss das nicht haben. Eigentlich brauche ich das nicht.« Unzählige
dieser Stördinge geschehen in meinem Leben. Sind geschehen. Unange-
nehmes, Millionen kleine Übel. Begleitet von Unbehagen. Begleitet nur
von Unbehagen. Dieses Unbehagen fand keinen Weg nach draußen, in
die kommunikative Welt, in Sprache, in das kleine oder große Nein. Das
Unbehagen war sprachlos, aber zweifellos da, gespürt, wuchernd. Es war
nicht berechtigt, mehr zu sein als ein Unbehagen.

Es wäre ungezogen, unpassend, überzogen, unanständig, blamierend,
beschämend, bloßstellend, peinlich gewesen, dieses Unbehagen zu be-
achten, geschweige denn mitzuteilen. Das Unbehagliche war hinzuneh-
men. Man kriegt nichts geschenkt. Das Leben ist kein Zuckerschlecken.
Was meinst Du denn, wer Du bist? Wenn eine Selbstverständlichkeit
Unbehagen auslöst, ändert das nichts daran, dass das Unbehagliche
eben selbstverständlich ist, hinzunehmen ist. Dass ich damit klarzu-
kommen habe. Wie jeder, dem Unbehagliches passiert. Da macht man
kein Drama draus, keinen Aufriss. Etwas stört, und mehr ist es ja nicht.

Was sind diese unzähligen Ungemache, die gelebten, aber nicht beach-
teten und nicht mitgeteilten? Die nicht thematisierten. Die Selbstver-
ständlichkeiten. Über die so nachzudenken, wie ich es jetzt tue, nicht
am Horizont auftaucht. Die real existierenden Unbehaglichkeiten –
aber die kommunikativ tabuisierten. Von denen die Welt ringsum
nicht mitbekommen kann, wie unbehaglich mir das da gerade ist.
Oder von der die Welt ringsum schon merkt, dass mir da was nicht
passt, aber niemand einen Weg sieht, wie sich das verringern oder
vermeiden lässt. Ich bin mit meinem Unbehagen allein und die an-
deren lassen mich damit auch allein sein.

Retrospektive: Ich bin 6 Jahre, doppelt so alt wie Corbinian, ich er-
innere mich: Will ich eigentlich in die Schule? Morgens weg von zu
Hause? Aufstehen, wenn ich noch müde bin? Will ich mit den Nach-
barn in ihrem Auto zur Schule gefahren werden? Will ich ein Regen-
cape auf dem Fahrrad ummachen? Will ich zum Flötenunterricht?
Will ich diese Hausaufgaben machen? Will ich schon nach Hause?
Will ich in die Badewanne? Sagosuppe löffeln? Fisch essen? Leber-
tran nehmen? Zur Impfe gehen? Ach, es sind Millionen Dinge. Doch
da kommt von mir kein Jaulen, kein Signal: »Ich will das eigentlich
nicht«. Es kommt überhaupt kein Bewusstsein in mir darüber auf.
Keine Selbst-Bewusstsein. Kein »Das kann man mit mir doch nicht
machen«. Kein Protest von der Art, die voller Gerechtigkeit ist. Es
kommt nur das Hinnehmen des Selbstverständlichen, nichts sonst.
Der Macht des »Man muss« kann ich nichts mehr entgegensetzen,
jedes Aufbegehren wäre einfach nur ungehörig. 

Man geht zur Schule. Man macht Hausaufgaben. Man kommt pünkt-
lich nach Hause. Man isst Fisch. Man, man, man: es gehört sich eben
so. Und aus. Und aus. Und aus. 

Wenn ich da doch mal opponiert habe, mit schlechtem Gefühl, dann
war ich »ungezogen«. Ich ging auf verbotenen Wegen, und wieder
war es aus. 

»Ich will das eigentlich nicht in meinem Leben haben«. Heute: Diesen
Irakkrieg. Diese Atomkraftwerke. Diesen Dieselruß. Diesen Zucker in
den Lebensmitteln.Dieses Amts­schreiben. Diese Autoreparaturkosten.
Diesen Kostenvoranschlag Zahnarzt. Diese, diesen, dieses. Denken
kann ich das schon – nur es ist eben lebenslang ungehörig, kinder-
kramlich, nicht ernst zu nehmen. Was soll der Quatsch?

Wenn mir was nicht passt, kann ich es sagen, ordentlich. Aber nur so
ein Gefühl haben, dass da was nicht stimmt? Nicht in mein Leben passt?
Und so ein Gefühl dann auch noch als berechtigt, legitim ansehen und
es auch noch offensiv und stolz und selbstbewusst und avantgardistisch
und energisch aufsteigen lassen, zulassen und als vorbildlich und lebens-
dienlich und friedensstiftend begrüßen und dann auch noch mitteilen???
Das ist doch affig, Kleinkindverhalten, Jaulen.

Eben. Und genau das zeigt mir Corbinian. In seiner Größe. Und Schlicht-
heit: »Mir passt da was nicht«. Es sagt es mit seinen Tönen. Er sagt einfach,
was ich nie sagen konnte, mich nie zu sagen traute. Nie wäre ich auf den
Gedanken gekommen, dass ich alles Recht der Welt hätte, das so zu sehen:
»Ich will das eigentlich nicht«.

Fortsetzung folgt.