Mittwoch, 25. Oktober 2017

Vom Jaulen und der Harmonie, III























Es macht mich glücklich, dass ich auf mein Kind so zugehen kann.
Dass ich ihn auf dem Arm nehme und ihn frage. »Was brauchst Du
denn?« Ich fliege durch die Jahre zurück, in sein Alter, und alle die
Millionen hingenommenen Unbehaglichkeiten streife ich dabei, und
ich sage ihnen, dass sie keine Schandflecken auf meiner Seele waren,
sondern Lichtzeichen meines Selbst, Signale, die mich selbst und die
Welt um Hilfe riefen. Ich bin alt, Corbinian ist jung. Man muss das
alles nicht endlos wiederholen, denke ich mir, diesen verstellten Weg.

Ich kann Corbinian als Piloten nehmen, der sich im All des Seltsamen
und Unbehaglichen noch auskennt. Und so kümmere ich mich um ihn,
und damit um mich, und sein »Ich will jetzt gar nicht laufen«, was dann
leise kommt, lässt mich jauchzen: Dann trage ich dich eben, auf dem
Arm, hier, zum Einkaufen. »Du musst auch nicht laufen«. Da wird er
wieder fröhlich. Und dann will er wieder runter. Und läuft. Und der
Schatten ist vorbei.

Schatten: im Alltag, überall. Mit den Kindern, in der Partnerschaft,
im Beruf, ach sonst wo: »Ich will das eigentlich nicht.« »Was willst
Du denn?« Man könnte doch mal schauen, was geht. Ohne sich zu
verleugnen. Und oft geht es ja auch, und das muss nicht überhand
nehmen, das Unbehagen, oder man kann es mit der Hilfe der anderen
beenden, zur Ruhe kommen lassen. »Arm« sagt Corbinian, und das
heißt »Trag mich« und dass heißt »Sei mir nah«.

»Ich möchte das nicht« – »Was möchtest Du denn?« Wenn so etwas
ohne Arg schwingen kann zwischen uns. Wenn das »Ich möchte das
nicht« keine Abwehr hervorruft, wenn das »Was möchtest Du denn?«
keine Schwäche vermuten lässt und keinen Anspruch provoziert.
Wenn da nur ist »Ich« und »Ich«: »Ich will etwas nicht« und »Ich
biete meine Hilfe an«. Wenn dieses einfache »Es tut weh« und »Kann
ich Dir helfen?« Raum bekommt, in das Herz einzieht, auch im Konzert
des Alltags seinen Klang hat. Wenn es nicht untergeht. Wenn wir es
hervorzotteln unter dem Schutt der Routine unserer Beziehungen.
Wenn wir uns ein kleines bisschen, mit so einer gewissen Selbst-
ironie, disziplinieren: »Das kann man doch auch ganz anders sehen.«
Dieses Unbehagen des Kindes, des Partners, des Anderen, sein Nein,
seine Abwehr, sein Jaulen. Man kann das auch anders sehen. Und
anders reagieren. Schöner, mit sich selbst mehr im Frieden. 

Und das alles ohne Druck, ohne Zwang, nur als Idee, Möglichkeit,
Einladung. Ich lade mich selbst ein, Corbinian freundlich zu sehen.
Sein Jaulen nicht aus dem Reich des Bösen kommen zu sehen, son-
dern aus seinem Licht. Und mein millionenfaches Jaulen mir nicht
übel zu nehmen, sondern ernst zu nehmen. Und meine Hilfe anzu-
bieten. Und auch um Hilfe zu fragen. »Du könntest mich unter-
stützen«, ohne Forderung. Es gibt auch diesen großen Weg, den
Weg der Harmonie. Es ist nicht verboten, ihn zu gehen, und er ist
auch immer da. Auch für mich, wenn ich ein jaulendes Kind trage
oder wenn ich ein jaulendes Kind bin und voll Unbehagen dahin
stolpere. Auf diesem Weg kann ich mich wieder aufrichten und mit
mir in Übereinstimmung und Harmonie sein.




bei
mir sein
meine farben malen
meine bewegungen leben
meine blicke ruhen lassen
meine blumen blühen lassen
meine sprache sprechen
mit meinen händen
meine dinge
tun