Dienstag, 28. November 2017

Man kann keine Fehler machen






















"Sie sagen, man kann keine Fehler machen. Was meinen Sie damit?"
Frage auf dem Vortrag. Ich erkläre, aber ich weiß auch, dass meine
Erklärung zum "Keine Fehler machen" nicht jeden erreicht. "Man
macht aber doch Fehler. Und man kommt nur weiter, wenn man
seine Fehler erkennt und daran arbeitet."

Klar mache ich oft etwas anders als eben. Weil das Eben nicht so
war, wie ich es gern gehabt hätte. Ich schlage mir nicht zum zweiten
Mal mit dem Hammer auf den Finger, ich parke diesmal vorsichtiger
ein, ich ziehe mich wärmer an. Der falsche Schlag, das falsche
Parken, die falsche Kleidung: wieviel Fehler steckt da drin? Und
passt "falsch" eigentlich?

Ich bin da schon hellhörig. Um das Wort "Fehler" herum gibt es eine
Ausstrahlung, eine verborgene Botschaft, eine Hintergrundmusik,
die ich nicht mag. Herabsetzung, Besserwisserei, Demütigung,
Schlechtsein. Die ungute Bösewelt taucht auf, wenn von einem
Fehler die Rede ist. Und da jeder Mensch für mich sinnvoll und
Ebenbild Gottes ist, passt das nicht zusammen.

Beim Rechnen kann ich den "Fehler" leichter akzeptieren. 3 plus
3 gleich 7 ist falsch. Ein Fehler? Ein Rechenfehler ja, aber
ein Fehler? Wer drei und drei addiert zu sieben, der fällt aus dem
Sinn, dem universellen kosmischen Sinn ja nicht heraus. Er ist un-
konzentriert in Sachen Algebra, will den Lehrer ärgern, seinen
Protest gegen die Mathematik, die die Atombombe hervorgebracht
hat, demonstrieren oder sonstwas. Er kommt nicht zur mathema-
tisch! richtigen Lösung. Aber seine Lösung "Sieben"" ist nicht in
einem höheren Sinn ein Fehler. "Sieben" ist Ausdruck seines
Insgesamts, seines Sinns, seiner Liebe und Schönheit. "Fehler"
passt nicht, "Rechenfehler" schon.

Bin ich da überdreht? Ist sowas alltagstauglich? Tja, ich verhandle
beim "Fehler" eben etwas Grundsätzliches. Das Fundament der
Amication ist gebaut ohne den Fehler. Ohne die ungute Welt, die
den Fehler umgibt.

Ungute Welten gibt es bei vielen Wörtern, die wir dann ver-
meiden. Sie drücken Zusammenhänge aus, die nicht mehr
passen und ersetzt werden. So eine politische Korrektheit lässt
sich auch übertreiben, aber oft ist es eben stimmig. Statt
"Neger" gilt heute "Schwarze". Und oft fehlt auch ein neues
Wort. "Unkraut" für die Distel und die Brennessel? Sie sind
die Heimat von Schmetterlingen und habe ihren Platz im
Ökosystem. Ein neues Wort für "Unkraut" fehlt. Wie beim
"Fehler". Distel und Brennessel existieren, aber die Unkraut-
wolke hüllt sie nicht mehr ein. Mein Tun und seine Folgen
(Toter Hund, Blechschaden, Erkältung) gibt es, aber ohne
Fehlerwolke.

Ich kann also keine Fehler machen, selbst wenn ich es wollte.
Weil ich die kosmische Konstruktivität, die mich existieren lässt,
nicht verlassen kann. Ich bin aus Konstrutkivität entstanden und
gewoben, jenseits aller Fehlerei.

"Sie können es jederzeit anders machen als eben", sage ich. "Aber
Sie müssen über das Eben nicht schlecht denken. Das Eben war
ja grad eine gültige Gegenwart. Warum wollen Sie ihre Vergangen-
heit schlecht dastehen lassen und ihr - also sich - Vorhaltungen
machen? Kann man tun, mus man aber nicht tun. Man muss nichts
an sich fehlerhaft finden, auch nicht das, was grad schiefgegangen
ist."

Danach kommt dann gleich das Gespräch über das Leid, dass
durch Fehler entsteht. Fußgänger angefahren, Kind angebrüllt,
Partner verlassen. Ja, durch unser Tun entsteht immer wieder auch
Leid, und das ist ein großes anderes Thema. Fehler aber? Passt
auch bei der Leidthematik nicht. Ich tue immer Sinnvolles, Fehler-
loses, und dabei kann es durchaus immer wieder zu Leid kommen.
Fehlerlos sein öffnet nicht das Tor zu leidfrei sein und führt auch
nicht in die Lieblosigkeit. Ohne Fehler zu leben schließt kein Tor
sondern lässt ein Tor offen. Das Tor, hinter dem ich in Harmonie
mit der Welt und mir lebe.



 


Sonntag, 26. November 2017

Amication leben, Rita









Ich lebe bewusser als je zuvor im Jetzt und Heute und der Umgang
mit anderen Menschen fällt mir leichter. Ich kann klarer "meine
Sachen" sehen und sagen. Ich weiß, was ich möchte und kann es
sagen ohne schlechtes Gefühl (Gewissen). Wenn andere dann
Schwierigkeiten mit mir haben, kann ich es schon ertragen und sie
trotzdem akzeptieren.

Ich sehe jetzt deutlicher als früher, dass ein "Misserfolg" ganz alleine
von mir beurteilt werden kann und es alleine an mir liegt, alles zu
revidieren. Dies nimmt mir die Angst vor neuen Situationen, vor
dem Umgang mit neuen, fremden Menschen (hoffentlich sage ich
nichts falsch). Es nimmt mir auch die Angst vor meiner eigenen
Spontaneität. Ich mag es, wenn sich jemand mit meinen Problemen
anzufreunden versucht, auseinandersetzt und eventuell eine ldee
hat, die mir eine Entscheidung erleichtern könnte. Entscheidend bin
jedoch immer ich selbst. Das ist mir im Laufe der letzten Zeit bewusst
geworden.

Miriam, meine älteste Tochter, ist 4 Jahre alt. Miriam ist der
Meinung, dass ich ihren Vorstellungen entsprechend ihre Sachen
regeln kann. Früher war ich oft sauer und gekränkt, wenn ich alles
tat, was ich konnte, und sie schimpfte und tobte. Heute versuche ich
ihr zu helfen, solange ich mag und kann. Ich rede nicht mehr auf sie
ein und versuche nicht mehr, ihr die Unmöglichkeit der Durchfüh-
rung ihrer Vorhaben zu erläutem. Miriam ist, wie sie ist, und ich will
sie nicht mehr ändem.

Denke ich an den täglichen Umgang mit meinen beiden Kindern,
ist mir klar, meine pädagogischen Vorkenntnisse (Erzieherin und
Lehrerin) waren eher hinderlich als förderlich im aktiven, spontanen
Zusammensein. Da kamen Vergleiche wie "Mutter = Autorität",
"Mutter = Vorbild", "Mutter = immer für die Kinder da", und ich
verschwendete noch viel Zeit mit dem "Was wird wenn?" Heute
kommen mir nur in extremen Situationen solche Gedanken; ich kann
meist über sie lächeln und sie vergessen.

Freitag, 24. November 2017

"Was machen Sie da?"























"Was machen Sie da?" Ich bin im Dunkeln mit den Kindern
zum Geocachen unterwegs. Wir suchen eine versteckte Dose
mit Hilfe von Koordinaten. Es ist ein Internetspiel, das draußen
umgesetzt wird. Wir suchen also, diesmal im Bürgerpark. Der
Wachdienst hat uns erspät, kommt heran: "Was machen Sie da?"

Das ist schon eine seltsame Anmutung. Streck ich dem Mann
des Wachdiensts die Zunge raus? Was hat der mich zu fragen,
uns im Spiel zu stören? Die Antwort "Wer sind Sie denn?" und
"Was geht Sie das an?" kommt hoch, aber ich stopf sie wieder
runter. Ich erklär ihm freundlich, was wir hier tun. Er hört zu,
seine Harschheit verfliegt, "Dann viel Erfolg." Wir sollen den
Park verlassen, er hat schon geschlossen.

Wie oft fragen wir die Kinder, was sie da machen? Oft. Wie
übergriffig ist das eigentlich? Wie kommen sich die Kinder
vor? Ertappt? Überprüft? Geht uns das etwas an, was ein
Kind macht? Wir sind da in einer Selbstvertändlichkeit
unterwegs. Wir bekommen mit, was die Kinder machen.
Und wir fragen nach. Einfach und ungefragt.

Ich denke über die Balance nach, die so eine Fragerei und
Ausfragerei in sich tragen. Big Brother oder Ausdruck unserer
Liebe? Die Kinder sollen nicht zu Schaden kommen. Die
Dinge, mit denen sich die Kinder beschäftigen, sollen nicht
zu Schaden kommen. Die Familienregeln sollen auch nicht
zu Schaden kommen. Die moralischen und gesellschaftlichen
Benimme auch nicht. O lala. Was es da nicht alles zu zer-
deppern gibt. Was es da nicht alles aufzupassen gibt.

Muss ich Auskunft geben, wenn mich jemand fragt, was ich
mache, was ich da mache? Muss ich nicht. Müssen die
Kinder das? Tja - irgendwie schon. "Zeig her", "Mach den
Mund auf", "Was hast Du da?", "Wohin willst Du?" Und
so weiter und so fort. Wem gehören die Kinder, ihr Tun
und Lassen? Ab wann wird es unfreundlich und unerfreu-
lich mit unserer Einmischung?

Der Wachdienst stößt mich auf dieses Thema. Gibt mir
zu denken. "Was machst Du da?" will sensibel gehändelt
werden. Ich bin nachdenklich. Die harschen Töne nehme
ich dem Wachmann nicht übel. Er hat mir eine Tür gezeigt,
die mit ihrer Wucht im Dunkel liegt. Und die ich jetzt sehe
und mit neuer Vorsicht öffnen oder einfach geschlossen
lassen kann. Danke, Wachdienst.

Donnerstag, 16. November 2017

Kindergrenzen








Standardfrage auf dem Vortrag: "Meinen Sie nicht auch, dass die Kinder Grenzen brauchen?" Ich sage dann etwas dazu. In der Richtung, dass die Kinder wie jeder Mensch Grenzen um sich herum haben, und dass sie das nicht irgendwie brauchen. Sondern dass sich Grenzen nicht vermeiden lassen und dass sich fragt, wie man damit umgehen kann.
Und dann gibt es da auch einen ganz anderen Aspekt beim Thema "Kinder und Grenzen", über den weniger nachgedacht wird. Ich stelle ihn hier vor mit einem Text aus meiner Schatzkiste.

*

Im Zusammenhang mit »Kinder und Grenzen« wird meist darüber nachgedacht, welche Grenzen den Kinder gezogen werden sollten. Mit geht es aber jetzt einmal um die Grenzen, die Kinder (wie alle Menschen) um sich selbst haben. Wenn Grenzüberschreitungen den Kindern gegenüber passieren, und wie man das verhindern kann.

Wenn man es merkt, dass Kinder auch Grenzen haben, ist man schon den ersten Schritt gegangen. Natürlich haben sie viele Bereiche, wovor ihr Stoppschild steht. Wenn man jedoch meint, dass Kinder (noch) keine vollwertigen Menschen sind, sondern erst richtige Menschen werden, kommt man kaum auf die Idee, ihnen richtige individuell-spezielle Grenzen zuzubilligen. Aber natürlich: jedes Lebewesen hat seine Grenzen. Allgemeine und spezielle.

Die allgemeinen Grenzen der Kinder werden heutzutage ganz gut bedacht: Kinder dürfen nicht in zu dünne Zonen von Liebe, Achtung, Würde, und äußeren Lebensumständen (Essen, Kleidung, Wohnen usw.) geraten.

Es geht mir aber um die speziellen Grenzen: um die Stoppschilder dieses Kindes, dieses einzelnen Menschen. Jeder hat da andere, manche/viele sind gemeinsam.

Klaus (5) ist ein Acht-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind: Es macht keinen Sinn, von ihm zu verlangen, um Sieben ins Bett zugehen.
Ulrike (3) ist im Gummibärchen-Fan-Club: Es macht keinen Sinn, von ihr die Herausgabe der Club-Karte zu verlangen.
Moritz (9) ist ein Ich-Räume-Nicht-Auf-Kind. So geworden im Laufe der Jahre, bei diesen Eltern, bei dieser Oma. Es macht keinen Sinn, darauf zu bestehen, dass erst aufgeräumt wird, bevor ...
Monika (14) raucht, und zwar eine Menge: Ihr das Rauchen zu verbieten macht keinen Sinn. Doch? Was passiert, wenn sie raucht, weiß sie längst. Aber sie hat ihre Grenze eben anders gezogen. Zigaretten gehören zu ihr, zu ihrem Selbstbild. Wie bei ihrer Tante. Und dem Klassenlehrer. Ihr die Zigaretten zu verbieten, missachtet ihre Grenze: missachtet sie.
Die Beispiele lassen sich unendlich fortsetzen.

Eine Grenzüberschreitung ist eine Grenzüberschreitung. Da sollte man sich nichts vormachen. Unzulässig aus der Sicht des Betroffenen. Aber ich sage nicht, dass man nun alles hinnehmen soll: Hinnehmen, wie mein Kind zuwenig Schlaf bekommt (meine Grenze »Er braucht aber 12 Stunden Schlaf« wird missachtet). Hinnehmen, wie der Süßkram die Zähne kaputtmacht (meine Grenze »Sie soll gesunde Zähne haben« wird missachtet), usw.

Ich will etwas anderes: Wenn einem präsent ist, dass die Kinder da vor einem auch Grenzen haben, berechtigte Grenzen – dann wird man etwas einfühlsamer, umgänglicher, stressfreier in dieser Frage. Ich habe das immer dabei gehabt, dieses Wissen: dass Kinder vollwertige Grenzen-Menschen sind. Und dass Fingerspitzengefühl dazugehört, mit ihren Grenzen umzugehen. Wie bei »allen« Menschen und Lebewesen (ich halte keine Katze gegen ihren Willen fest, ich hänge mich nicht an einen zu dünnen Ast).

Wenn ich eine Grenzüberschreitung nicht vermeiden will (ich verstoße gegen Deine Grenze, damit dies nicht mit mir passiert), dann ohne Lüge. »Ich weiß, dass ich Deine Grenze missachte. Hier stehe ich und kann nicht anders.« Ohne Tricks »Sieh das ein. Es ist besser für Dich«.

Menschen haben vielfältige Liebenswürdigkeiten oder Behinderungen (beides ist dasselbe, je nach Perspektive): lila Haare, Gurken zum Frühstück, krank im Hirn, zu kurzes Bein, Bus statt Auto, Auto statt Bus.

Es macht keinen Sinn, von jemandem zu verlangen, er soll sein Bein nachwachsen lassen. Es macht keinen Sinn, einen Hund zum Unterricht zu schicken, damit er Staubsaugen lernt. Es macht keinen Sinn, von der Schwerkraft zu verlangen, dass sie aufhört, damit ich fliegen kann. Realitäten. Kennen wir. Können wir mit umgehen.

Klaus geht um 8 ins Bett. Ulrike isst Gummibärchen. Moritz räumt nicht auf. Monika raucht. Realitäten. Kennen wir. Können wir mit umgehen. So einfach ist das.

Was will ich wirklich? (Die Praxisfrage der Amication!) Mit diesem Kind leben? »Ja.« Es ist ein Acht-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind und kein Sieben-Uhr-Ins-Bett-Geh-Kind. »Es soll sich ändern.« Soll sein Bein nachwachsen? »Das ist nicht zu vergleichen. Niemand muss morgens Gurken essen.« Wirklich? Wer sagt das? Vergleicht doch. Was passiert, wenn man vergleicht? Geht die Welt unter? Was steht auf dem Spiel?

Ich habe immer gemerkt, dass Krieg oder Frieden auf dem Spiel stehen. Natürlich kann ich in den Krieg ziehen, und ich habe auch oft gewonnen. Und oft verloren. Aber: Ich muss nicht in den Krieg ziehen. Nicht für 1 Stunde eher ins Bett, für noch gesündere Zähne, für 30 Minuten Aufräumen, für körpergesund und dafür seelenkrank.

Ich habe mich eingependelt im Grenzland, wo die Grenzen aufeinander treffen. Und da ich über mich bestimme, bin ich auch der Souverän, der die eigenen Grenzlinien hin- und herschieben kann. Das ist kein Nachgeben! Das ist Augenzwinkern, Halb-So-Wild, Friede, Harmonie. Es sieht so aus, als wäre ich großzügig, einfühlsam, tolerant. Es ist eine andere Quelle: Ich billige mir alle möglichen Liebenswürdigkeiten zu, ich liebe meine Macken – und das kann ich auch den anderen lassen. Auch den Kindern. Ich weiß, wie gut das tut. Ich habe Grenzen, die flexibel sind. Je nachdem. Und wenn sie hart sind, dann ist es eben so ein Tag. Wir nehmen uns unsere Grenzen nicht so übel, weil sie keiner zur heiligen Kuh macht.










Montag, 13. November 2017

Kinderland: ... schläft ...























Aus meiner Kinderforschung


Stefanie (6) schläft. Ich setze mich neben sie und höre ihr zu.
Die anderen sind draußen am Feuer. Ich nehme die Ruhe des
Raumes auf und spüre die Ruhe, die von ihr ausgeht. Ich
sinne über ihre Tränen nach und über meine. Ich habe mir
Zeit genommen, neben diesem schlafenden Kind zu sitzen
und die Stille und ihr Leben in mich aufzunehmen.

Donnerstag, 9. November 2017

Wutanfall






















 „Mein Sohn kriegt oft einen Wutanfall, wenn ich nein sage. Was
soll ich machen?“ Frage eines Vaters auf dem Vortrag. Er erzählt,
dass er ratlos daneben steht. Sein Sohn ist vier, er schlägt dann
um sich und fängt an, Sachen kaputt zu machen.

Ich antworte mit dem Drumherum. Konkretes habe ich nicht parat.
Außer, dass ich Dinge, die für das Kind gefährlich werden könnten,
außer Reichweite bringe. Und zwar vorher, die Wohnung nach
Messer, Gabel, Schere, Licht durchforste. Oder die Dinge, die nicht
kaputt gehen sollen, wegstelle oder sichere. Und dann nehme ich
den weiten Bogen:

Da läuft nichts wirklich aus dem Ruder. Klar haben Wutanfälle ihre
Ursachen. Und ihre Anlässe, oft ein Nein. Die Kinder wollen eben
nicht das, was wir wollen, und unser Nein schlucken sie nicht, son-
dern bewüten es. „Das könnten Sie ihm lassen, es ist seine Art zu
reagieren, wenn so ein Nein seinen Weg verstellt.“

So etwas ist nicht schön. Wer hat denn gern ein Wutanfallkind?
Aber so ein Kind kann einem schon mal geliefert werden, vom
Leben, Gott, den Umständen, irgendwelchen Psychodingen bei
den Eltern. Tausend Gründe und Abgründe. Soll man da rum-
stochern? Ja, wenn es vom Himmel fällt, wie sich so ein Wut-
splitter aus der Seele ziehen lässt. Das passiert aber im wirklichen
Leben nicht auf Bestellung. Therapie? Was soll man denn noch
alles machen! Es sind Wutanfälle, nicht die Pest.

„Nehmen Sie Ihrem Kind seine Wutanfälle nicht übel. Es ist seine
Art, mit Ihrem Nein umzugehen. Und nehmen Sie es sich selbst
nicht übel, dass Sie so ein Kind haben. Und dass Sie nicht wissen,
wie Sie diese Wutanfälle wegbekommen. Sie haben so ein Kind,
jetzt grad, vielleicht noch ein Jahr, vielleicht lange. Und Sie sind
so ein Vater, einer, der so ein Kind hat und der nicht so recht weiß,
wie er damit umgehen soll.“

Ich nehme das Drama aus dem Szenario, die Schwere, das Üble.
Ich schicke ihm rüber, dass er in Ordnung ist und dass er nichts
besonderes tun muss. „Vielleicht schaffen Sie es, nicht mit Schimp-
fen anzufangen. Nicht noch einen draufsetzen. Sie müssen nichts
tun, verbessern, lösen. Sie können einfach warten, bis der Anfall
ausschwingt.“

Reicht das? Einfach warten, bis das wütige Kind vor mir von allein
aufhört? Ja was? Soll ich es hochnehmen, festhalten, auf es einreden,
es bedrängen, mit „freundlicher“ Stimme voll Psycholeim einkleistern?
Kann man alles machen, mach ich aber nicht. Finde ich nicht hilfreich.
Einer wütet, der andere ist dabei. „Sie sind ja da. Sie gehen nicht weg.
Und wenn Sie es schaffen, auch innerlich nicht wegzugehen, sich nicht
von Ihrem Kind zu distanzieren – das wäre prima. Es ist nicht verboten,
sein Kind weiter zu mögen, wenn es wütet. Und sich selbst zu mögen,
wenn es wütet.“

Ich sage ihm, dass die Wüterei seines Sohns ihm keine neue Last
aufbürdet. Die nämlich, dafür zu sorgen, dass das weggeht. Dass
er nicht dem Bild hinterherjagen muss, als guter Vater müsse er
aber doch. „Sie müssen da gar nichts. Sie können schauen, was
Sie gern tun würden, aus Ihrer Sicht, nicht aus der Sicht eines be-
mühten Vaters. Wutanfälle kommen und gehen, wie dunkle Wol-
ken. Man kann sie nicht wegzaubern. Also, lassen Sie sich und ihn
in Ruhe, wenn er wütet. Sie müssen nicht sein Wutmeister sein.“

Reicht so eine Antwort? Ich merke, dass ich ihn auf andere, auf
neue Gedanken bringe. Gute Gedanken? Finde ich schon.




Sonntag, 5. November 2017

Renesmee

  



 

 

Wir sehen. Die Welt. Mit den Augen, dem Herzen, den Bildern, den Farben, den Gedanken, der Fantasie, den Träumen und vielem mehr. Dieses Sehen ist fein gesponnen, gewachsen, es ändert sich oder bleibt gleich, es ist machtvoll, laut und leise, einheitlich und gegensätzlich. Es ist ein Teil unseres Selbst, es ist in uns und wir sind in ihm. Alles im Untergrund, mit grandioser Wirkung im Außen.

Nachmittags-Seminar, Tagesmütterausbildung, ich bin Gastreferent. Eine Teilnehmerin hat ihre Tochter mitgebracht, 16 Monate alt,  Renesmee. Ich beginne mit dem Vortrag, entfalte die amicative Welt. Renesmee erzählt von ihrer Welt, viel Aufmerksamkeit ist bei ihr. Ich sehe das Kind, und ich sehe, wie sie die Konzentration stört. Meine und die der anderen. Einige Mütter spielen mit ihr, reden mit ihr, sind bei ihr und nicht beim Vortrag. Das ganze ist nervig, aber auszuhalten.

Ich erzähle vom „Wer ist Du?“ und vom „Wer bin ich?“, von Identität, Grenzen, Königskrone, Souveränität. Von Gleichwertigkeit, Augenhöhe, Selbstliebe und Co. Renesmee spielt mit dem Schlüsselbund und der Handtasche, bekommt Kekse und Fläschlein. Wer ist wichtig, richtig, darf sein? Was ist verabredet, Konsens, Dissens? Ich bekomme mit, dass viele zuhören, oder eben nicht. Ich höre nicht auf zu erzählen, breite weiter aus, zeige die Tür zur Amication. Renesmee nervt, ist aber auszuhalten.

Pause nach einer Stunde. Hab ich nötig. Die Leiterin entschuldigt sich. „Aber sonst hätte diese Teilnehmerin nicht kommen können.“ „Schon gut“, sage ich. Lege Bücher aus, entspanne mich. Welchen Blick habe ich auf die Kinder, die ich in meiner Erzählung leben lasse?  Nun ja,  den amicativen eben. Was sehen die Teilnehmerinnen, mit den Gedanken, mit dem Herzen? Sehen sie die Krone? Sehen sie sich als Missionare, die Kinder erst zu Menschen machen? Oder sehen sie sich als Gleichwertige, Kind unter Kindern, ein Leben lang? Haben sie überhaupt folgen können, bei so viel Renesmee?

Nach der Pause kommen wie immer die Fragen. Und meine Antworten. Wir haben einen großen Sitzkreis, 20 Mütter und ich. Und Renesmee. Während ich gefragt werde, bevor ich antworte, sehe ich das Kind. Ich höre die Fragen und habe Sehzeit, weil ich ja mit der Antwort noch nicht dran bin. Ich sehe das Kind, wie es im Kreis hin- und herläuft, herumgeht – und ich bemerke, dass ich die Krone sehe!

Wo ist meine Anspannung, mein Ärger, mein Unwohlsein? Nicht mehr da – statt dessen sehe ich das leibhaftig vor mir, was ich gerade noch etwas angestrengt sichtbar machen wollte. Alles an dem Kind vor mir ist schlüssig, königlich, leicht, liebenswert. Die Konzentration auf Renesmee lässt jetzt das in mir schwingen, was hier verhandelt wird. Es wird groß, großartig, einmalig. Ich habe dieses Kind nicht bestellt für diesen Nachmittag. Aber es ist da, geliefert vom Leben und lehrt mich und die Teilnehmer das, was ich mit meinem Vortrag aufscheinen lasse. Eine intensive, eine magische Allianz.

Mein Blick auf das Kind hat sich verändert. Statt Störung jetzt Unterstützung. Statt Unwohlsein jetzt Erstaunen, Ergriffenheit. Statt Belastung jetzt Gelassenheit. Statt „Geh“ jetzt „Willkommen“.

Ich bin von dieser Verwandlung so verzaubert, dass ich erst im Nachgespräch mit der Leiterin dahinter komme, was da passiert ist. Mein Herz sieht Kinder ja so, und das „Ich bin genau so jemand“, von dem Kind hier in den Raum geflüstert, hat mein „Kinder stören die Konzentration eines Vortrags“ überwunden, mich erreicht, meinen Blick auf sie geändert. Ihr wortloses „Hallo Hubertus“ hat mich erreicht, Resonanz ausgelöst, mich „Hallo Renesmee“ antworten lassen. Unsere Welten haben sich aus ihrer Gegensätzlichkeit gelöst.

Der Nachmittag war gut. Sehr gut. Viele nehmen etwas mit, wie es dann heißt. Es wird eine erfüllte und heitere Atmosphäre. Es gibt konkrete Beispiele, direkt zum Erleben: Renesmee nimmt eine Tablettendose aus der Handtasche - „Nein“ - kurzer Protest - und vorbei. Grenzziehen ohne Herabsetzung. Oder: sie hängt sich die Handtasche um den Hals. Die Nachbarin: „Gib her“, das klappt problemlos. Ihre Mutter: „Das kann sie doch machen“. Tasche zurück, das Spiel geht weiter. Die Unterschiedlichkeit der Grenzen wird deutlich. Und dass wir für unsere Grenzwahrung selbst zuständig sind. Alles mein Thema, aber jetzt nicht nur erklärt, sondern direkt gelebt. Und erfahrbar für den anderen Blick auf die Kinder, für den ich heute gekommen bin.

Wir können unseren Blick ändern. Wenn die Belastung und der Ärger unsere Augen formen – das kann weggehen. Wir können anhalten und umdeuten, kann man machen. Muss aber auch nicht zum Stress geraten, diese Umdeuterei. Und gelingt ja auch immer wieder. Vom unguten Ärgerland wandern ins Freudeland. Welchen Großraum will ich haben, wo will ich unterwegs sein? Darauf können wir Einfluss nehmen, von Dort nach Hier gehen, den Blick verwandeln.

Selbstliebe lässt es uns gut gehen. Sie hilft uns. Also lass ich sie mal machen, in mich wirken, meine Blicke freundlich werden. Was ja nicht immer klappt, aber oft eben doch. In großen und kleinen Dingen des Alltags und Miteinanders, mit den Kindern, dem Partner, den anderen. Wie viel Ärger soll in meinem Tag Raum bekommen? Anlässe gibt es genug. Aber mit dem anderen Blick wird der Anlass entärgert und schön geredet und gefreudet.

Martina erzählt von den Matschhänden. Von Renesmee und ihresgleichen. Die Kinder haben Hunger. Die Brote liegen bereit. Vor dem Essen kommt: das Händewaschen.  Ach ja? Wie will ich das vermitteln? 16 Monate und Matschspaß und Hunger - 36 Jahre und Seife vor dem Essen. Was ist der Blick, mein Blick? Auf die Situation, auf das Leben, die Matsche, die Seife, die Brote, auf Renesmee, auf mich? Mit den Augen der Kinder sehen: mein Herz in ihrer Schwingung. Kann sein, muss nicht sein, kann aber sein. Martina: „Die können auch mit Matschhänden essen.“

Empathie, aus der Selbstliebe heraus. Ohne Anstrengung. Als etwas, das passiert. Wenn im großen Nachdenkeland so etwas gern gesehen wird, Amication zeigt solche Möglichkeiten. Ich zeige sie in den Vorträgen, die Kindern zeigen sie unmittelbar. Unser Kopf und unser Herz können sich verändern. Nicht über die Maßen, ein wenig, oder doch stürmisch. Ich kann beiläufig die Matschende ein wenig sauber wischen, die dreckigen Gummistiefel von den Kinderfüßen ziehen,  das Zimmer aufräumen, nachsichtig sein, gerade auch in der Partnerschaft, in Harmonie geraten, mich anstecken lassen.

Wie viel Streit muss sein? Wie viel Streit will ich haben? Wie viel Ärger muss sein? Wie viel Ärger will ich haben? Wie viel Heile Welt? Wer will ich sein? Wir können das nicht alles wirklich selbst machen. Nicht alles, aber manches und manchmal auch vieles. „Ich bin die Schönste im ganzen Land“ - gilt für alle. Für alle? Ja, das ist paradox und wahr zugleich. Zauberei der Liebe.

„Ich kann nicht gleichzeitig einen Vortrag halten und ein aktives Kind in Raum haben.“ Hallo: nur ein bisschen Durchhalten, und der Gegensatz wird zur Harmoniestraße. Vielleicht sind wir oft einfach zu ungeduldig, zu angestrengt, überfordert, vom Gerade und vom Überhaupt. Ja, so ist es oft, immer wieder. Aber unsere Augen und unser Herz sind strapazierfähig und lassen uns auch immer wieder sehen, was es zu sehen gibt: Königskronen, Freude, Harmonie, Eingeladensein, Mitmachen. Vertrauen auf die Verwandlungen – eine große Hoffnung.
   


Mittwoch, 1. November 2017

Nehm Dich an die Leine






















Neulich war eine Katze bei mir. Mein Besuch hatte sie mitgebracht.
Kann man Katzen aus ihrem Zuhause mit auf die Reise nehmen? Was
muten wir den Tieren zu, die bei uns leben, die uns anvertraut sind?
Tja, wie immer: das kommt drauf an, auf dieses Tier, diesen Menschen,
diese Umstände. Schon die anderthalbstündige Fahrt zu mir war ein
Risiko - aber das, dieses Kätzchen war einfach gut drauf und hat die
Fahrt genossen. Es hat also gepasst. Und bei mir war sie dann weiter
gut drauf, hat alles erkundet und sich schließlich auf einen Stuhl
gesetzt und geschlafen. Ich habe mich gefreut, dass sie mitgekommen
war.

Mir geht die Frage durch den Kopf, was wir alles so mit unseren Tieren
- die bei uns im Leben sind - anstellen. Ich bin jetzt bei den Haustieren.
Was wir mit den "Nutztieren" anstellen, vom Namen angefangen bis zu
sonstwas, mal abgesehen. Man muss sich eben auch immer wieder trauen,
der Beziehung trauen. "Sie macht das schon mit", und wenn nicht - dann
kann ich die Autofahrt sofort abbrechnen und nach Hause fahren. Das Sich-
Trauen und das der Beziehung trauen gilt ja auch generell, den Kindern
und dem Partner gegenüber - und ist ein sehr sehr weites Feld.

Das Katzenfrauchen (auch so ein merkwürdiger Name) traute sich aber
noch mehr. Sie hatte die Katzenleine mitgebracht. Die Katze bekam
ein Geschirr umgebunden, daran dann die Leine. Wir wollten mit den
Kindern in den Wald. "Die Katze kommt mit!" Wie bitte? Eine Katze an
der Leine? Und dann noch im Wald? Es war dann einfach wunderschön!
Unser Kätzchen war auf Du und Du mit der Natur, hüpfte hierhin und
dorthin, spielte mit den Ästen und dem Sand, sauste den Baumstamm
hoch, soweit es mit der Leine ging.

"Aber man kann doch eine Katze nicht an die Leine nehmen" geisterte
irgendwie bei mir rum. Doch, man kann. Die Katze im Wald frei laufen
lassen - kann man auch machen. wenn man sich traut. Mit dem Risiko,
dass die Katze dann weg ist, zu ihrem und unserem Umglück. Das war
die Grenze, mehr sollte es nicht sein.

Wieviel Grenze setzen wir den unseren? Wieviel Leine habe ich für
die Kinder und den Partner parat? Bei wieviel Freiheit wird mir unwohl?
Und wie geht es den Kindern und dem Partner mit meinen Grenzen und
Leinen? Gibt es da einen Leinenunterschied zwischen meiner Leine für
die Katze und meiner Leine für einen Menschen? Klar doch! Ich lege
doch keinen Menschen an die Leine! Ach wirklich? Es gibt sie nicht zu
sehen, wer erlebt schon, dass ein Mann seine Frau an einer Leine durch
die Gegend führt. Oder eine Frau ihren Mann. Oder ein Vater sein Kind.

Aber es gibt sie eben, diese Leinen, nicht sichtar, gewoben aus allem
Möglichen: Angst, Vorsicht, Sorge, Macht, "Liebe" und so weiter. Und
wieviele Leinen sind an mich angelegt, lasse ich mir anlegen? Konven-
tionsleinen, Beziehungsleinen, Angstleinen. Von keine Jeans im Theater
bis ehelicher Treue. Also, diese Leinenthematik ist Alltag und wirkt im
Hinter- und Untergrund. Bis es dann mal einen Aufstand gibt oder ein
gutes Gespräch über die Einschränkungen in der Beziehung, und sich
dann die eine oder andere Leine auflöst.

Die Katze nahm die Leine so selbstverständlich hin. Sie hätte
ja auch einen Anfall bekommen können. Tat sie aber nicht. Brave
Katze! Braves Kind! Braver Mann! Brave Frau! Der Umgang mit der
Leine und Freiheit des anderen ist ein sehr sehr weites Feld...