Sonntag, 25. Februar 2018

Klassenlehrer





















Klassentreffen meiner Abi-Klasse. Auch unser Klassenlehrer ist
gekommen. "Herr Dr." begrüße ich ihn. Aber er ist problemlos im
Du mit uns, also: ein neues Du-Gefühl. Was fliegt über die 50
Jahre? Als wir reden und ich ihm von meinem Weg, meinem
Lebensweg erzähle, merke ich, dass ich in ein großes Land
schaue, mein Lebensland. Und ich merke, dass es viel und dass
es voll ist.

Klar kramen ich und die anderen und er diese und jene Story
vor, und ich erinnere mich. Ich war unter einem guten Stern
unterwegs, es war ein achtungsvoller Umgangston und ein
tragfester Respektstil, den er mit uns hatte. Eine gewisse
Zärtlichkeit und Besorgtheit machen sich in mir breit in
diesen vier Stunden: als wollte ich ihm etwas geben, zurück-
geben von dieser Achtsamkeit, mit der er mir und den anderen
begegnete.

Ich schreibe ja vehement gegen die Schule an, so wie sie heute
existiert. Selbstverständlich wusste auch er, was für uns Schüler
gut war, hatte seine pädagogische Mission. Und dass er als Lehrer
die Gedankenfreiheit von uns Kindern gar nicht erst sah und unser
Recht darauf im Gestus des Selbstverständlichen unterdrückte -
tja, darüber nachzudenken war nicht, Tabu. Und das hatten wir
auch als Schüler nicht im Blick, Tabu eben, unser Leid war un-
kennbar und unnennbar, nur mit Wucht im Untergrund unserer
Herzen. Die Verletzungen, die jeder Lehrer den ihm ausgeliefer-
ten Kindern zufügt, erkannte ich erst später, als ich selbst Lehrer
war. Mein Schultagebuch ist voll davon.

Doch die Beziehung, die zwischen ihm und mir lebte, enthielt
neben dieser Anmaßung und geistigen Gewalt ("Lest diesen
Text", "Schreibt diese Klassenarbeit", "Haltet dieses Referat",
"Kommt in diesen Raum" ... Teilzeitgefängnis Schule, voller
kulturellem Inperialismus uns Eingborenen, Nachgeborenen
gegenüber), enthielt neben dieser strukturellen Unterdrückung
eben auf der persönlichen Ebene, dem Ich-Du, eine überzeu-
gende Wahrhaftigkeit. Er war ein Fremder, ein Erwachsener,
ein Lehrer, kein Freund, nicht von Meinesgleichen. Aber
dennoch: es war Achtung und Würde im Spiel.

Eines Schultags traf ich mich morgens mit meiner Freundin
am Fluss. Wir hatten uns verabredet, nicht zur Schule zu
gehen sondern diesen Sommertag mit Paddeln und Picknick
in den Flusswiesen zu verbringen. Erfüllt paddelten wir nach-
mittags zurück. Aber was morgen in der Schule sagen? "Ich
war paddeln mit meiner Freundin", sagte ich am nächsten
Tag zu ihm. Er kannte uns als Pärchen. Nach ganz kurzem
Innehalten sagte er nur so etwas wie "Na gut" und das wars.
Es war eine Person-Person-Situation, nicht Schüler-Lehrer,
sondern Ich-Du. Er war offen und bereit, unalt und jung für
diese Authentizität.

Und jetzt ist er da, sitzt neben mir und wir reden. Grandios!
Natürlich bleibt er bei meinem "Ich bin nicht für Kinder
verantwortlich, denn das sind sie selbst" hängen, und schon
bin ich im Ausbreiten der amicativen Idee, meinem Element!
Aber wie kann ich einem Menschenleben voller Erziehung
etwas vom erziehungsfreien Leben mit Kindern erkennbar
machen? Doch er hört mir zu, und da leg ich los. Wir haben
nicht viel Zeit, eine Viertelstunde, dann wollen die anderen
zu ihrem Recht kommen, die Aufmerksamkeit wandert
weiter. Ich soll ihm etwas schicken, das mach ich. Ich denke
sofort an das Schulgtagebuch. Und auf unserer Website
steht ja auch genug. Er schreibt mir seine Adresse auf,
ein heiliger Zettel.

Ich merke: hinter mir liegt eine lange Wegstrecke, und all die
Klassenkameraden haben auch ihren Weg gehabt. Es ist viel,
mein Leben, eine große Geschichte, nicht schlecht! Auf der
Fahrt nach Hause komme ich in die Dankbarkeit dem allem
gegenüber, diesen tausenden Situationen. Und eben auch ihm
gegenüber, dem Klassenlehrer, diesem Klassenlehrer. "Hab
eine gute Zeit" schwinge ich zu ihm. Und sage diesen Zauber-
spruch auch zu mir und meinen nächsten 50 Jahren.

Vorhin tippe ich nebenbei eins seiner Lieblingsdinge an: Alt-
und Mittelhochdeutsch. Und schon trägt er das Gedicht in
dieser geheimnisvollen Sprache vor, über das wir damals eine
Klassenarbeit schrieben. Und dann frage ich ihn nach "bluot zi
bluoda" und  "tandaradei" - Magie, die mich all die Jahre be-
gleitet hat. Und gebannt hören wir ihm zu, wie damals.

*

Phol ende Uuôdan uuorun zi
holza.
Dû uuart demo Balderes uolon
sîn uuoz birenkit.
Thû biguol en Sinthgunt,
Sunna era suister,
thû biguol en Frîia,
Uolla era suister;
thû biguol en Uuôdan sô
hê uuola conda:
sôse bênrenkî, sôse
blutrenkî,
sôse lidirenkî: bên zi bêna,
bluot zi bluoda,
lid zi geliden, sôse
gelimida sin !



Phol und Wodan ritten ins
Holz.
Da ward dem Fohlen Balders
der Fuß verrenkt.
Da besprach ihn Sinthgunt
(und) Sunna, ihre Schwester.
Da besprach ihn Frija (und)
Volla, ihre Schwester.
Da besprach ihn Wodan, wie
(nur) er es verstand:
So Knochenrenke wie
Blutrenke
Wie Gliedrenke: Bein zu Bein,
Blut zu Blut,
Glied zu Gliedern, als ob
geleimt sie seien !




Under der linden
an der heide,
dâ unser zweier bette was,
dâ muget ir vinden
schône beide
gebrochen bluomen unde gras.
Vor dem walde in einem tal,
tandaradei,
schône sanc diu nahtegal.


Ich kam gegangen
zuo der ouwe,
dô was mîn friedel komen ê.
Dâ wart ich enpfangen,
hêre frouwe,
daz ich bin sælic iemer mê.
Kuster mich? Wol tûsentstunt:
tandaradei,
seht, wie rôt mir ist der munt.


Dô het er gemachet
alsô rîche
von bluomen eine bettestat.
Des wirt noch gelachet
inneclîche,
kumt iemen an daz selbe pfat.
Bî den rôsen er wol mac,
tandaradei,
merken, wâ mirz houbet lac. 


 Daz er bî mir læge,
wessez iemen
(nû enwelle got!), sô schamt ich mich.
Wes er mit mir pflæge,
niemer niemen
bevinde daz, wan er und ich,
und ein kleinez vogellîn –
tandaradei,
daz mac wol getriuwe sîn.


Unter der Linde
an der Heide,
wo unser beider Bett war,
da könnt ihr schön
gebrochen finden
Blumen und Gras.
Vor dem Walde in einem Tal,
tandaradei,
sang die Nachtigall lieblich.


Ich kam
zu der Au,
da war mein Liebster schon da
Dort wurde ich empfangen,
edle Frau!
(so) dass ich für immer glücklich bin.
Küsste er mich? Wohl tausendmal!
Tandaradei,
seht, wie rot mir ist der Mund. 


Da hatte er aus Blumen
ein prächtiges Bett
vorbereitet.
Darüber wird jetzt noch
herzlich gelacht,
wenn jemand denselben Weg entlang kommt.
An den Rosen kann er wohl,
tandaradei,
erkennen, wo mein Haupt lag.


Dass er bei mir lag,
wüsste das jemand
(das wolle Gott nicht!), dann würde ich mich schämen.
Was er mit mir tat,
das soll nie jemand
erfahren, außer er und ich
und ein kleines Vöglein,
tandaradei,
das kann wohl verschwiegen sein.





















Mittwoch, 21. Februar 2018

Magie - die helle Seite





















Alles hat gestimmt. Der Fluss der Bewegung, die Nähe, die
Zugewandtheit, die Schnelligkeit, die Kühnheit, die Eleganz,
die Schönheit, die Leichtigkeit, die Kraft, der Zeitstillstand,
die Offenheit, die Zärtlichkeit, die Berührung, die Zuversicht,
das Paarsein, das Sich-Entfernen und Sich-Finden, der Gleich-
klang, die Körper, die Herzen, die Sicherheit, der Wagemut,
das Gelingen.

Einfach angerührt sein, innehalten, beglückt sein, diese Hoff-
nung aufnehmen: Menschen können so sein, so überwältigend
und strahlend. Zukunft der Menschheit, hier zu sehen, mitrei-
ßend ins Morgen. Magie. So soll es sein.

Bei all dem Grusel, der zurzeit umgeht und alles in Beschlag
nimmt, auffrisst, lähmt und kränkt und die unbeschwerte
Fröhlichkeit zum Erstarren bringt. Ach, all dies dunkle Zeug:
Atombombe, Waldsterben, Isis, Insektensterben, Erderwär-
mung, Rechtsfront, Trump, Putin, Erdogan, Ebola, Dieselgate,
Kindersoldaten, Heuschrecken, Selbstmordattentate, Regen-
waldzerstörung, Glyphosat, Überfischung, Ölpest, Krebs,
Genmais, Bodenversiegelung... "werdet ihr merken, dass
man Geld nicht essen kann..."

Und dann dies: Funken, Fenster, Blick in die Schönheit und
Harmonie des Homo sapiens sapiens, auf seine Würde und
Kraft, seinen Auftrag, gemeinsam mit allem ringsum auf
unseren Heimatplaneten glücklich zu sein. Märchenbotschaft,
real und leicht, geschenkt von diesen beiden Zauberkindern
auf dem olympischen Eis, Aljona und Bruno, am Tag nach
Valentin.

Ich habe mir das Video immer wieder angesehen und mich
fallen lassen in dieses Gegenbild zum Weltengrusel, habe
mich in Resonanz und Harmonie gefühlt, und genau daran
habe ich Anteil und arbeite ich mit. Einfach schön!

*
Olympia Eiskunstlauf Gold 15.2.18, Aljona Savchenko
und Bruno Massot. Ihr Video ist zu finden unter:
Eiskunstlauf - der Kürweltrekord von Savchenko/Massot



Mittwoch, 14. Februar 2018

Schwung und durch!





















"Da nimmst Du Schwung und fährst durch!" Beim Joggen auf 
Feldwegen kommen mir eine Dreijährige auf ihrem kleine Fahr-
rad und ihre Mutter auf ihrem großen Rad entgegen. Matsch-
stelle. Das Mädchen zögert,  doch ihre Mutter macht ihr Mut,
und es klappt auch. "Alles nicht  so einfach!" rufe ich, und weg
sind die beiden.

Ich bin oft vor eigentlich unschaffbaren Dingen, Hindernissen
aller Art, großen und kleinen. Verlorenes wiederfinden, doch
noch pünktlich sein, Amtsgeschäfte hinbekommen, Einkaufs-
sachen schaffen, Geo-Cache finden, Joggingzeit einrichten,
Kinderwünsche erfüllen. Ach, es gibt so vieles, was ganz und
gar unrealistisch ist: unrealistisch, dass es zu schaffen ist.

Atlantik. Ich bekomme mit, dass Felix, 10, es nicht aus der
Brandung schafft. Also hin, fass ihn am Handgelenk und
schwimm mit ihm Richtung Strand. Voll Kraft! Aber wir
kommen nicht voran. Sog. Wir kommen nicht voran!!! Gut,
dass er nichts davon mitkriegt. "Das schaffst Du", ich sauge
mich dran fest. Und wenn nicht? "Mach weiter!" Ich nehme
Schwung um Schwung, bis ich den Sand unter den Füßen
spüre.

In mir ist eine stille Kraft, die mich Schwung haben läßt.
Unverzagt sein. Zuversicht. Wird schon. Ohne dabei einen
Aufriss zu machen. "Und wenn es nicht klappt? Wenn das
Rad kippt? Die Bauchschmerzen nicht gehen? Das Buch
ausverkauft ist ? Das Überholen zu eng ist? Die Partnerin
geht?" Klar schwingt sowas in mir. Aber es bannt mich
nicht, lähmt mich nicht, nimmt mir nicht den Mut. "Da
nimmst Du Schwung und fährst durch!"

Ich will das nicht übertreiben. Es gelingt ja auch immer
wieder etwas nicht. Doch ein Punkt in Flensburg, doch
keine Kinokarte mehr, doch das Knie kaputt. Aber diese
Nichtgelinge nehmen mir nicht den Schwung, dieses sichere
Gefühl. Diese Basis, willkommen zu sein, hier im Leben.
Matsch, welcher Art auch immer: Wegmatsch, Meermatsch,
Papiermatsch, Herzmatsch...Ich nehme Schwung und fahr
drauf los, auf das Nein los, und immer wieder teilt sich
die Dornenhecke und gibt mir Zutritt ins Rosenland.